Flusseroberer, erschrocken stehen. Rund um meine Schuhe perlt Wasser aus Eisritzen. Eine furchtbare Angst steigt in mir auf. Ich sehe mich unter einer dicken Eisschicht treiben, ohne Chance, je wieder nach oben zu gelangen. Neben mir schwimmen Fische.
„Leg dich langsam auf den Bauch“, höre ich meinen Großvater in mir sagen. Ich gehorche der Stimme und lege mich unendlich langsam auf das Eis, robbe zum Ufer, fasse einen Weidenast und ziehe mich auf die Böschung. Ich schaue auf den Fluss und fühle, wie der Tod mich wieder entlässt.
DIE ERZÄHLUNGEN MEINER OMA
Meine Oma ist anders als alle anderen, denn sie ist seit ihrer Kindheit blind und wurde schon immer von ihren Eltern, ihrem Ehemann und später auch von ihren Kindern betreut. Sie kommt nach unserem Umzug in unser neues Haus zu uns und wird Teil unserer Wohngemeinschaft.
Meine Oma wurde sehr jung verwitwet mit sechs Kindern. Sie ist knapp über 50 Jahre alt, mollig, hat lange dünne Haare, die mit Henna gefärbt sind. Ihr Gesicht ist rund, freundlich, mit einer schönen rosigen Haut. Trotz ihrer Blindheit ist meine Oma ein humorvoller Mensch. Sie erzählt uns oft Geschichten, Sagen, Fabeln oder auch Märchen, die sehr lebendig sind, und entführt uns in eine andere Welt.
Ihre Geschichten fangen immer spannend an: „Es war einmal ein sehr geiziger Mann in einem kleinen Dorf. Er sparte sein ganzes Vermögen und versteckte es in einem großen Koffer unter dem Dach. Jeden Abend schaute er mit Genugtuung seinen Reichtum an und ging dann mit tiefer Zufriedenheit schlafen.
In dem Dorf kam es zu einer Dürre und Trockenheit. Es hatte so lange nicht geregnet, dass die Ernte zum Leben nicht reichte. Die Menschen suchten verzweifelt den Mann auf in der Hoffnung, dass er sie mit einem kleinen Betrag unterstützen konnte. Dies taten sie, um sich damit in der Nachbarschaft etwas zum Essen besorgen zu können. Der geizige Mann sagte: „Nein, ich gebe euch kein Geld, da ich nicht sicher bin, das Geld wieder zurückzubekommen“. Für sich selbst kaufte er gutes Essen und freute sich über seine Klugheit und seinen Reichtum. Seine Nachbarn hungerten, und er war nicht bereit, ihnen unter die Arme zu greifen.
Im Winter machte er sich ein Feuer an, um sich zu wärmen. In dieser Nacht fiel er in einen tiefen Schlaf und bemerkte nicht, wie sich das Feuer im ganzen Haus verbreitete. Er konnte sich nicht mehr retten, und niemand hörte seine Hilferufe. Von seinem Haus blieb nichts als Asche übrig. Die Nachbarn waren entsetzt und fragten sich, ob er seinen Reichtum wohl in die Hölle mitgenommen hätte, damit es niemandem besser gehen konnte als ihm selbst.“
SAUERKRAUT
Zweifellos bemühte sich meine Mutter immer, mir ein gesundes Essen vorzusetzen. Beim Sauerkraut, das sie mit vielen Gewürzen weichkochen ließ, war das aber gar nicht so einfach. Das Wichtigste in ihrem alten Rezept war nämlich, neben Zwiebeln auch viel Schmalz zu verwenden, umso besser schmeckte es angeblich. Damals war Schmalz noch ein üblicherweise verwendetes Kochfett. Meine Mutter setzte es sparsam ein und achtete darauf, das Sauerkraut regelmäßig umzurühren, damit alles gleichermaßen fein kochen konnte.
Als wieder einmal Sauerkraut mit Knödeln aufgetischt wurde, sagte ich nach einem kleinen Bissen: „Bei der Juli-Tante hat es mir aber viel besser geschmeckt!“ Ich aß nur widerwillig weiter. Am Vortag hatte die Tante mir ein schon sehr braun gebranntes, etliche Male aufgewärmtes Sauerkraut zum Probieren gegeben. Das schmeckte mir ausgezeichnet, besonders die schwarze Kruste, die ich aus dem Topf kratzte, fand ich einfach himmlisch! So habe ich schon als Kind das ungesunde Essen dem gesunden vorgezogen. Und meine Mutter war an diesem Nachmittag ein bisschen traurig.
EINGEWEIDE DER DUNKELHEIT
Ins Bett zu gehen bedeutete für mich, reglos dazuliegen, damit meine Arme, Knie oder Füße nicht an die Kante rutschen konnten. Unter dem Bett befanden sich nämlich ein unendlich dunkler Abgrund und ein großes Krokodil, das mich verschlingen konnte. Es schlief ebenso so regungslos wie ich. Der harte Schuppenpanzer erstreckte sich über seinen gesamten Rumpf, den Schwanz und die Extremitäten. Sein Körper war mit festen Schuppen übersät, es sah aus wie ein rotäugiger Drache. Ich wollte nicht von einem rotäugigen Drachen in die Tiefe der Dunkelheit gezogen werden, aus der ich womöglich nie zurückkäme. Ich erkannte, dass die Dunkelheit die Macht hatte, Dinge zu transformieren, Monster und unheimliche Geräusche zu erzeugen. Tagsüber existierte nichts davon, unter dem Bett befanden sich nur meine Hausschuhe und ganz hinten die Fußleiste. Der Parkettboden glänzte im Licht. Aber nachts in der Dunkelheit war dies die Höhle des Monsters. Ich konnte nur noch in der Mitte des Bettes schlafen, und als ich einmal von der Nässe meines Urins aufwachte, wagte ich nicht, aufzustehen. Mein Schlafanzug war nass und kalt, doch ich durfte mich nicht aufrichten, denn das Krokodil würde mich an den Beinen nach unten ziehen. Lange verharrten wir so, ich bewegungslos in der Mitte des Bettes, das Krokodil darunter.
GLASWAND
Wo seid ihr? Das Bettlaken durchgeschwitzt. Fieberfantasien in mir. Sehnsucht nach Wärme trotz heißer Haut. Mein Kopf schmerzt. Trübe meine Augen, verschwommen das Krankenzimmer. Ganz schwach pfeift meine Lunge bei jedem Atemzug. Diese furchtbare Einsamkeit. Nur mein Teddy bei mir. Wo sind Mama, Papa? Ich brauche euch doch bei diesem hohen Fieber, einsam im Krankenzimmer. Nur weiße Kittel kommen ab und zu zu mir, sie sind kalt. Endlich sehe ich dich, Mama, draußen hinter der dicken Glasscheibe. Ich taumele aus dem Bett, presse meine Händchen und meine Nase an das kalte Glas, spüre meinen Herzschlag. Deine Hand auf der anderen Seite. Und die kühle Scheibe zwischen unserer Haut. Neben dir ein böse blickender Weißkittel. Er lässt dich nicht zu mir. Stimmt‘s? Will in den Arm genommen werden. Ich kann nicht weinen vor Schmerz. Kinder brauchen Nähe. Das muss doch auch der Weißkittel wissen. Deine Tränen tropfen auf deine Hand. Jetzt hältst du mich in Gedanken im Arm. Die Glasscheibe trennt nicht mehr. Ich spüre deine Wärme durch das Glas. Die Angst weicht. Ein kleines bisschen davon nehme ich mit ins Altwerden.
PRIMELWIESE
Zweifellos waren die Wintermonate meiner Kinderzeit wesentlich kälter und schneereicher, der Frühling zeigte sich frühestens Mitte März mit den ersten frühblühenden Pflanzen. Leider gab es damals auf unserem Gartenrasen nur wenige Wiesenblumen, er sah nach der Winterzeit immer sehr traurig aus.
Einer der ersten Frühlingsboten ist die Primel, ihr monatelanges Blühen verbreitet große Freude. So schlug mir mein Großvater eines Tages einen Ausflug zu den nahen Waldwiesen vor, auf denen gelbe Primeln und auch die verwandten Himmelschlüssel in großer Zahl blühten. Wir versorgten uns mit kleinen Stoffsäcken und Messern und spazierten damit zur nahen Waldlichtung. Dort gruben wir zwei oder drei Primelstöcke aus und pflanzten sie dann in unseren eigenen Garten.
Zuvor galt es noch, diverse Unkräuter mit bloßen Händen auszureißen, manche wie den Löwenzahn mussten wir auch mit einem Werkzeug ausstechen. Eine Spezialität meines Großvaters war es auch, den steinigen Weingartenboden mit kräftigem Mist zu düngen. Jedem Pferdekarren, der an unserem Garten vorbeifuhr, lief er hinterher, um die frischen Pferdeäpfel einzusammeln und sie zum Kompostbeet zu bringen.
Nach einigen unserer Waldrunden zeigten sich in den folgenden Jahren immer mehr Primelgewächse als Bodendecker in unserem Garten. Mein Großvater, der eigentlich Tischler war, hatte als Hobbygärtner ein goldenes Händchen. Auch das Veredeln von Rosen und Bäumen zählte zu seinen Lieblingstätigkeiten. Später strahlten dann Primeln und die unterschiedlichsten Rosensorten in unserem Garten um die Wette. Unsere Nachbarin aber zeigte sich jedes Jahr aufs Neue höchst erstaunt darüber, wie es zu der wundersamen Blütenvermehrung in unserem Garten gekommen war.
DAS WEIßE DES UNIVERSUMS
In Kinderzeichnungen haben die Bäume meist keine Wurzeln, aber meine hatten