über Mauern geklettert, sie wusste wohl nicht, dass Mauern gemacht sind, um sie zu überqueren, dachte ich, meine Augen voller Tränen.
GROßVATER
Mein Großvater mütterlicherseits ist ein fröhlicher und herzensguter Mensch. Er hat einen großen Weingarten, einen wunderschönen Hahn und viele Hühner, die uns jeden Morgen frische Eier zum Frühstück schenken. Mitten auf seinem Hof, vor der Terrasse, befindet sich ein großer Teich mit Goldfischen. Jeden Abend vor Sonnenuntergang sprengt mein Opa die Blumen und den Boden des Hofes mit Wasser, damit die Hitze im Sommer erträglicher wird. Danach riechen der Hof und die Terrasse nach feuchter Erde. Dieser Geruch ist unser Zeichen, das bald das Abendessen serviert wird. Dann stellen unsere Mütter die wunderbaren Gerichten für die große Familie auf die Terrasse, deren Düfte uns noch hungriger machen. Das Abendessen wird immer wie ein Festmahl gefeiert. So verbringen wir oft die Sommerferien mit der ganzen Familie im Hause meines Großvaters.
Mein Großvater wird plötzlich krank. Wir Kinder spüren einen unsichtbaren Saum der Trauer in der Luft. Meine Mama sagt: „Opa geht es nicht gut, macht nicht so viel Lärm.“ Opa protestiert und sagt mit schwacher Stimme: „Lass doch bitte meine Vögel zwitschern, das schenkt mir viel Kraft“. Doch schon bald erlischt das Lebenslicht meines Großvaters. Sein Platz auf der Terrasse bleibt leer. Mama sagt: „Er ist für immer fort“. „Für immer?“, frage ich entsetzt und spüre zum ersten Mal den Schmerz des Verlustes eines geliebten Menschen, der nie mehr da sein wird.
WESPENSTICHE
Nur langsam verzog sich der heiße Dampf im ersten Stock unseres Ferienhauses, es duftete aber noch immer nach süßem Himbeersaft, den meine Mutter den ganzen Abend über zubereitet hatte. Ich verzog mich bei diesem Vorgang immer nach oben, da mir nicht nur der heiße Riesentopf auf dem Küchenherd Respekt einflößte, sondern auch die vielen Flaschen, die mit heißer Luft sterilisiert werden mussten, bevor der Saft durch einen Schlauch eingefüllt wurde. Meine Mutter tat dies mit weit ausgestreckten Armen, denn manchmal hielt eine Flasche dem Erhitzen nicht stand und zersplitterte.
Nun, ans Einschlafen war an diesem Abend noch lange nicht zu denken. Drückend schwül war der Sommertag verlaufen, mit der dampfenden Küche als abschließendem Höhepunkt, und auch aus den geöffneten Fenstern gab es kaum einen Durchzug. Ein weiteres Problem im überhitzten Holzhaus bestand in einem riesigen Heer von Insekten, die uns ohne Fliegengitter regelrecht heimsuchten. Nachtfalter und Fliegen waren dabei noch die humansten Tiere, Bremsen und Stechmücken erfreuten sich reichlich an unserem Blut, und besonders gefährlich wurde es beim Besuch von Bienen, Wespen oder Hummeln.
Irgendwann musste ich in dieser schwülen Sommernacht doch eingeschlafen sein, als es endlich etwas abgekühlt war. „Aua … au! Mamaaa!“, schrie ich mitten in der Nacht auf und tastete zum Lichtschalter. Es stach, brannte, schmerzte heftig an zwei, drei, ich wusste gar nicht an wie vielen Stellen meiner Beine. Ich zog meine leichte Decke zur Seite und sah sie daliegen, zwei, nein, drei halbtote Wespen, die ich offensichtlich mit meinen Fußtritten betäubt hatte.
Schnell sprang ich aus dem Bett, rannte ins Erdgeschoß und wurde dort von meiner Mutter mit Zwiebelscheiben verarztet. Schnell neutralisierten diese die Stiche, sie wirkten entzündungshemmend und schmerzlindernd. Den Rest der Nacht verbrachte ich im Bett bei meiner Mutter. Noch einige Tage juckten die Einstiche der nächtlichen Ungeheuer, und für alle Zeiten schüttele ich vor dem Einschlafen meine Decke kräftig aus. Es könnten sich ja Wespen darin einquartiert haben.
MASERN
„Du hast zu viel Fantasie“, sagt Mutter und streicht mir durch die feuchten Haare. Draußen trommeln die Regentropfen an den Rollladen. Ihr Lächeln erkenne ich nicht. Ich liege mit Fieber im Bett und weine. Ein Albtraum hatte mich heimgesucht. Meine Augen brennen. Ich sehe alles nur wässrig, die Konturen des Lebens nehme ich nur verschwommen wahr. Schemenhaft bedrohen mich die wenigen Möbel im Raum – wie hungrige Raubkatzen. Mich fröstelt, trotz der hohen Körpertemperatur. Der Raum ist abgedunkelt. Ich liege schon seit mehr als zwei Wochen. Das ist üblich bei Masern. Die Leute sagen, das Licht bedrohe die Masernaugen. Jetzt blendet mich der spärliche Lichtstrahl durch den Türspalt. Mutters Hand auf meinem Haar beruhigt ein wenig. Die Traumschatten der Nacht beben noch in mir. Jede Nacht diese Angsträume. Auch das käme von den Masern, sagte Mutter, als die Träume anfingen. Der letzte Traum hat mir die Urangst gezeigt. Eine riesige grellgelbe Fläche, die mir die Sinne raubt, mit einem winzigen schwarzen Punkt in der Mitte. Mit jedem Herzschlag vergrößert sich der Punkt; pulsierend erwacht die Angst. Schrecklich, dieses innere Zittern. Bald reift der Punkt zum kleinen Fleck, frisst stetig die gelbe Fläche auf, wächst zum wabernden Ungeheuer, verschlingt irgendwann das Gelb. Dann nur noch Schwärze. Mein Herz rast voller Angst in der Nacht, ich schwitze. Mutter nimmt mich in den Arm, gibt mir einen Kuss auf die schweißperlende Stirn. Alles ist gut für diesen Moment.
WIE GROß IST DAS MEER?
Heute werde ich zum ersten Mal in meinem Leben das Meer sehen. Ungeduldig und aufgeregt warte ich auf den ersten Anblick. Ich frage meinem Vater, der ruhig neben mir im Bus sitzt, wie groß ein Meer sein kann, er antwortet: „Sehr groß“. Ich kann mir keinen Reim über die wahre Größe des Meeres machen. Als wir unterwegs einen Fluss sehen, frage ich eifrig, ob wir angekommen seien, ob dies das Meer sei. Mein Vater lächelt, küsst mich sanft auf die Wange und sagt: „Nein, das Meer ist viel größer als ein Fluss. Du musst dir vorstellen, dass im Meer Millionen Fische schwimmen.“ Ich quäle mich, weil ich keine richtige Vorstellung vom Meer habe. Unruhig frage ich: „Wie groß kann eigentlich ein Meer sein? Wohin fließt das ganze Wasser, und wie können so viele Tiere in das Meer passen?“
Endlich erreichen wir das Meer. Soweit das Auge reicht, gibt es keine Erde mehr, nur Wasser. Am Horizont vermischen sich Himmel und Meer, als ob die Erde vom Wasser verschlungen wäre. Der Anblick macht mir Angst. Mir kommt es so vor, als ob ein Riese vor uns säße, der mit einer unheimlichen Kraft alles Lebendige verschlingt. Erst jetzt erfahre ich wie winzig klein ich bin und frage mich: Wenn das Meer so groß ist, wie groß ist dann erst unsere Erde?
MÄUSERETTEN
Jedes Jahr im Frühjahr und Herbst tritt der nahe Fluss über die Ufer, so, als sei ihm sein Bett zu eng, als sehne er sich nach Weite. Die Hechte nutzen das Hochwasser, um ihren Laich in den Mulden der Wiesen abzulegen, nicht ahnend, dass das Wasser wieder in sein Bett zurückfließen wird. Uns Kinder fasziniert das Naturschauspiel. Wo sonst Kühe und Schafe sattes Gras weiden, breitet sich vor unseren Augen im ganzen Tal eine gräuliche Wasserfläche aus, vom Westwind gekräuselt. Für die Wiesenmäuse eine Katastrophe. Panisch verlassen sie ihre mühsam gegrabenen Gänge, retten sich auf die Holzpfosten der Weidezäune. Darauf haben wir gewartet. Vom Jagdfieber erregt, stapfen wir mit alten Zigarrenkisten unterm Arm in Gummistiefeln durch das Wasser zu den Rettungsinseln der Mäuse, sammeln die piepsenden Tiere an den Schwänzen ein. In der nebligen Abenddämmerung entlassen wir unsere Gefangenen in die Kellerfenster der Häuser von Bauern, die sich uns gegenüber beim Spielen im Sommer böse verhalten haben; zum Beispiel, wenn ein Ball über den Zaun hinweg in den Bauerngarten geraten war und der Bauer das Spielzeug wütend einbehielt. Die unschuldigen Mäuse sind unsere kindliche Rache.
BÜCHER
Ungeduldig warte ich auf meinen Vater an der Tür, denn heute bringt er mir ein neues Buch. Allein durch das Berühren eines Buches werden alle meine Sinne erweckt, das Sehen, Riechen, Schmecken, Hören und Ertasten. Durch diese sinnliche Wahrnehmung wird der Hunger meines Geistes gestillt.
Beim Anblick eines Buches erweitern sich die magischen Bilder meiner Fantasie. Der faszinierende Geruch eines Buches verkündet den Duft der Bäume. Die Wörter