des Wassers. Auf dem sicheren Boden des Sandes grub ich ein großes Loch, in das sie alle hineinfallen konnten, das ganze Meer und auch der Horizont.
WORTE PRÄGEN
In unserem Haus wohnte auch die Schwester meines Großvaters. Bei ihr verbrachte ich täglich – nicht nur, wenn meine Eltern berufsbedingt keine Zeit für mich hatten – mehrere Stunden meiner Kindertage. Damals gab es noch keine flächendeckenden Kindergärten, und nicht einmal im letzten Jahr vor meinem Schuleintritt besuchte ich einen solchen regelmäßig, obwohl dies viele Pädagogen und auch manche Pseudopädagogen als sehr hilfreich anpriesen.
Aus einer viel früheren Zeit rührt meine erste Lebenserinnerung: als ich mit knapp zwei Jahren erlebte, dass meine Großmutter gestorben war. Man brachte mich zu meiner Tante, von deren Wohnung aus man ideal in den Hof blickte konnte, was sie auch viele Stunden am Tag praktizierte.
„Jetzt tragen sie deine Großmutter hinaus!“, sagte sie mit lauter, aber keinesfalls trauriger Stimme zu mir, und irgendwie prägte sich dieser Satz bis zum heutigen Tag fest in meinem Gedächtnis ein.
Vielleicht war es von meiner Tante genau so gewollt, entscheidende Lebensschnittstellen mit großer Entschiedenheit weiterzugeben, wie das schon die Ureinwohner vieler Stämme taten, ohne jemals auf Geschriebenes oder auf Film, Internet und andere moderne Medien zugreifen zu können. Dieser Gedanke allein führt mich zu der Erkenntnis, dass meine Tante eine sehr weise Frau mit großer Lebenserfahrung gewesen sein muss.
Auch wenn meine Familie große Festvorbereitungen tätigte, „durfte“ ich zu meiner Tante gehen, was ich auch immer mit Begeisterung tat. Ich liebte es, bei ihr zu sein und ich liebte sie. Bei ihr durfte ich Kind sein, wie ich es wollte, ohne Einschränkungen.
So verbrachte ich auch einmal einen Heiligen Abend bei ihr, als meine Eltern an diesem Tag, für mich völlig unverständlich, beschäftigt waren. Es schneite, als meine Tante sich plötzlich aus ihrem Lehnstuhl erhob, zum Fenster ging und mit leiser, aber fester Stimme sagte: „Schau, jetzt fliegt das Christkind vorüber!“
Ich sah zum Fenster hinaus und sah tatsächlich das Christkind! Seit jenem Tag glaube ich an das Christkind, wenngleich in den Folgejahren immer mehr Freunde und Mitmenschen diese Tatsache energisch bestritten. Meine Tante war doch eine weise Frau.
ACKERFREUDEN
Das Spielen auf dem Felde, wenn die Erwachsenen die Ernte einfuhren, gehörte zu den schönsten Freuden meiner Kindheit. Brütende Hitze des Hochsommers hängt über dem Land, die Luft flirrt über den vom Wind gestreichelten Ähren. Sechs Mäher mit Sensen, bekleidet mit Cordhosen, Leinenhemden und Halstüchern, stöhnen bei jedem Schnitt vor dem dicht stehenden Korn. Ihre Köpfe schmücken Strohhüte, in deren Bünden Feldblumen stecken. Hinter ihnen laufen Frauen mit Schürzen, rechen und binden die Getreidehalme zu großen Garben. Sechs oder sieben solcher Garben werden zu einer Dieme zusammengestellt, die an ein Indianerzelt erinnert. Für uns Kinder ein idealer Schattenplatz.
Neben mir sitzt meine kleine Freundin. Ein pralles, von blonden Locken umspieltes Gesicht mit einem meist verschmitzten Ausdruck. Wir blinzeln durch die Ritzen zwischen den Garben und beobachten die Erwachsenen, wie sie sich auf dem Felde abmühen. Plötzlich nehmen wir vor unseren Füßen einen winzigen Feldhamster wahr, der wohl seine Mutter vermisst. Sein Fell leuchtet selbst im Schatten der Dieme edel, als er Männchen macht und sich die Barthaare putzt. Unendlich langsam schiebe ich meine offene Hand auf ihn zu, bis er darauf sitzt und präsentiere ihn stolz meiner Freundin. Verzückt streichelt sie ihm mit dem Zeigefinger gegen den Fellstrich über den Rücken. Wenig später setze ich ihn ab, und er verkriecht sich in einer Garbe. Wir strahlen uns an, fühlen eine tiefe Nähe zwischen uns und zu dem kleinen Wesen. Meine Freundin hat wässerige blau-grüne Freudenaugen.
MIT EINEM VOGEL IM BAUCH
Einmal stand ich hinter der Mauer unseres Hinterhofs und beobachtete einen Jungen, der einen von ihm selbst hergestellten Drachen hin und her in der Luft bewegte. Die Jungs auf der Straße spielten oft mit Drachen. Er zog den Drachen hoch, nahm die Spannung von der Schnur, wickelte sie in die Dose auf, ließ die Schnur los, bewegte die Arme, lockerte die Hände oder drückte an der Schnur. Der Drachen bewegte sich am Himmel hin und her und machte Kurven. Plötzlich näherte er sich mir. „Willst du es versuchen?“ Meine Eltern hatten mir verboten, mit Jungs zu spielen, mit ihnen zu reden oder so zu spielen wie sie spielen. Ich nickte. Ich wusste, dass ich etwas Verbotenes tat und ich musste aufpassen, dass mich niemand sah. Er gab mir die Schnur zum Halten. „Nimm sie!“
„Warte!“ Ich hielt ihn fest. „Nein, nicht so. Du musst dich bewegen, zieh die Schnur zur Seite!“ Ich war überrascht von der Kraft des Windes, die durch die Schnur ging. Es war, als ob ich die Zügel eines Tieres in der Hand hielt. Ich zog sie zurück, dann zur Seite. „Wenn du ihn nicht mit dem Wind bewegst, fällt der Drachen.“ Er sah aus wie ein fliegender Vogel in meiner Hand, die Kraft des Windes war wie das Gefühl der Freiheit, die am Ende der Drachenschnur mit schweren Flügeln flatterte. Der Drachen beschrieb eine Kurve, aber nicht so, wie er sollte, er drohte zu fallen. Der Junge nahm ihn mir wieder aus der Hand, und ich rannte ins Haus. Mein Herz schlug schneller, mein Bauch schmerzte vor Glück. Damals waren die Tage so lang wie Kaugummi, den man mit der Hand aus dem Mund zieht.
KINDHEITSNEST
Bilder aus meiner Kindheit, Fantasiefarben, tanzende Erinnerungen, Glück, Geborgenheit. Wir sind fünf Kinder, die mit meinen Eltern in einer kleinen Wohnung leben. Mitten in der Hauptstadt leben wir in einem großen Haus zusammen mit sechs anderen Familien, die auch kinderreich sind. Der große Teich mitten im Hof des Hauses ist der Schauplatz unserer Kinderspiele und die Begegnungsstätte der Frauen, die immer am Waschen oder Vorbereiten anderer Besorgnisse für ihre täglichen Hausarbeiten sind. Eine Schar Kinder erfährt täglich wunderbare, einzigartige Erlebnisse, wie sie uns keine anderen Gelegenheiten schenken, kein Gedanke daran, ob es außerhalb unserer Welt auch eine andere gibt. Wir sind unbefangen und sorglos. So nisten wir uns in einer schönen Welt ein und erfassen unser Glück.
MUNDRAUB
Nebelfetzen hängen an diesem Morgen in den Dorfstraßen. Mein Freund und ich schlendern dem Baumstück am Rand des Dorfes zu. Dort gibt es eine Hecke mit dicht gewachsenen Büschen. Darin sitzen wir oft, beäugen das Draußen, die vorbeigehenden Spaziergänger, ohne von ihnen erkannt zu werden. Ein seltsam wohliges und erregendes Gefühl von Sicherheit und Abenteuer zugleich. Man gelangt dorthin über eine schmale, den Berg hinaufführende Gasse, die von der Hauptstraße abbiegt. An diesem Morgen spüren wir wieder diese prickelnden Gefühle in unseren Kinderköpfen. Gleich am Anfang der Gasse rechts geht der Metzger seinem Handwerk nach. Es duftet nach frisch gekochten Würsten in der frühen, kühlen Stunde aus dem offenen Fenster der Metzgerküche. Gerade als wir die Gasse betreten, schiebt sich eine Stange mit dampfenden Würsten aus dem Fenster. Wir bleiben erstaunt stehen. Der Geruch der Würste vermischt sich mit dem Morgennebel. Einen Moment lang schauen wir uns an, ein Lächeln auf meinen Lippen und denen meines Freundes. Ich angele vorsichtig eine Wurst von der Stange, dann rasen wir unserem Buschnest entgegen. Nie zuvor hatte ich gestohlen. Später teilen wir die Beute, verspeisen sie gierig und bereuen nichts.
DAS GEHIRN
Es war das erste Mal, dass ich das Schullabor betrat. Das erste Mal, dass ich ein menschliches Gehirn sah. Ich starrte auf das Glas, das wie die Glasgurken im Kühlschrank meiner Mutter aussah. Ich starrte auf das Glas mit dem Gehirn in Äther. Ich blieb lange Zeit ohne zu blinzeln, bis die Lehrerin mich anrief und ich einen Schrecken bekam, der meine Augen weitete, meinen Körper zittern und meine Lungen mehr Luft schlucken ließ, was ich nicht wollte, weil mein Magen von dem seltsamen