sondern die sogenannten nachtaktiven Blutsauger, die zwar Sonnenlicht durchaus vertragen, aber ihre Beutezüge bevorzugt nachts erledigen. Daraus ist die Mär entstanden, dass sie nur nächtens aktiv werden.
Am wichtigsten war immer, eine Ausbreitung dieser – nennen wir sie karpatenstämmigen – Vampire zu verhindern. Und dazu gehörte vorrangig, die Halblinge und Viertellinge nicht zu vollgültige Mitgliedern der Vampirclans werden zu lassen. Und das geschah so …«
Sie wurde von Angelika unterbrochen, die Frau Faszl spontan an den Händen fasste:
»Bitte, bitte, tun Sie alles, was …«
»Aber meine Liebe, natürlich! Hören Sie zu, was ich zu sagen habe: Wir alle wissen, dass die landläufig bekannten Vampire keinen Schatten werfen. Nicht nur, dass man sie daran erkennen kann, nein, ihre eigentliche Schwachstelle ist die Tatsache, dass sie die Blutauffrischung durch Nachkommen, die aus Verbindungen mit Normalmenschen entstanden sind, dringend benötigen. Bei den sogenannten Halblingen und Viertellingen sieht die Sache etwas anders aus. Denn der Halbling, die erste Generation also, hat einen sehr schwachen Schatten, der Viertelling, die zweite Generation, bereits einen doppelt so starken, da der vampirische Anteil sich drastisch vermindert hat. Beide verminderten Schatten sind für das normale Auge bei einem gewissen Maß an Aufmerksamkeit durchaus wahrzunehmen.«
Das Erstaunen in den Augen der Anwesenden war deutlich erkennbar. Denn, hier auf dem Vorderdeck, war eindeutig zu sehen, dass Jonnys Schatten erheblich blasser war als die der anderen, nur war das bislang niemandem aufgefallen. Wie denn auch, wenn niemand um die Umstände wusste, achtete man auch nicht darauf.
»Die Sonnenvampire in Kurland haben, wie auch immer, festgestellt«, fuhr die Gräfin fort, »dass man eine Umwandlung von Halblingen und Viertellingen in vollgültige Vampire verhindern kann, indem man ihren Schatten buchstäblich erschießt. Das mag Sie erstaunen, denn was soll das heißen: einen Schatten erschießen? Ein Schatten ist zweidimensional und lebt nicht, das wissen wir alle. Dennoch gehört er natürlich eindeutig zur jeweiligen Person und ist untrennbar mit ihre verbunden. In der Praxis hat das damals wohl jedes Mal funktioniert, auch wenn es sich dabei vielleicht nur um einen symbolischen Akt handelt. Und daher würde ich das jetzt hier an der Person Jonny gerne selbst versuchen.«
Großes Erstaunen bei allen. Was die Gräfin da vortrug, war eine Erkenntnis, die ganz sicher noch nicht den Weg in die Fachbücher über Vampirismus gefunden hatte. Und deren gab es eine ganze Menge.
»Passen Sie auf!«
Inge Faszl hatte sich vom Kapitän die durchgeladene Pistole mit den Silberkugeln geben lassen, stellte sich neben Jonny, der nach links den Schatten warf. Sie zielte kurz nach unten und drückte dann ab. Angelika versetzte es einen Schlag, nicht weil der Knall so laut gewesen war, sondern weil sich Jonnys Schatten sichtbar deutlicher, er war etwa doppelt so dunkel als zuvor, vom Deck abhob.
»Das machen die Silberkugeln!« sagte die Gräfin und reichte dem Kapitän die Waffe zurück. »Ein Schuss reicht. Ich denke, man kann es erkennen.«
Das konnten in der Tat alle bestätigen. Angelika fiel Jonny um den Hals, und küsste ihn; die übrigen gratulierten Frau Faszl zu ihrem erfolgreichen Eingreifen. Dr. Beuteler, der dem allen stumm zugesehen und zugehört hatte, sagte lediglich: »Da haben wir ja eine richtige Expertin unter uns. Bravo!«
Und Jonny stellte fest, nachdem ihn die überglückliche Angelika endlich zu Wort kommen ließ:
»Ich … Ja, ich denke, nein, ich bin sicher, dieses seltsam drängende Gefühl ist verschwunden. Und jetzt gibt es wirklich keine Gefahr mehr?« Diese Frage kam fast ungläubig heraus.
Und als hätten sie alle zusammen den Schuss ausgelöst, bestätigten alle Anwesenden unisono: »Keine!«
*
Als das Vorderdeck wieder für alle Passagiere zugänglich war, wurden die an der Befreiungsaktion Beteiligten von allen Seiten bestürmt, doch zu erzählen, was sich zugetragen hatte. Natürlich hatten alle den Schuss gehört und wollten nun wissen, ob und welche Gefahr bestanden hatte. Doch sie hatten auf dem Vordeck wohlweislich ausgemacht, dass niemand etwas sagte.
Frau Schmitz-Wellinghausen, die an so einer Aktion zum ersten Mal teilgenommen und auch zuvor nie davon gehört hatte, telefonierte mit Erlaubnis des Kapitäns per Schiffsfunk mit der Zentrale. Nachdem sie Monsieur Lefebre persönlich Bericht erstattet hatte, bekam sie einen Sonderauftrag zugewiesen:
»Sorgen Sie dafür, dass wir diese Dame hier in unserer Zentrale zu sehen bekommen. Von diesem unglaublichen Wissen können wir nur profitieren. Wenn es sein muss, können Sie auch eine erkleckliche Summe anbieten, wer weiß, was bei ihr noch alles an wertvollem, verborgenem Wissen vorhanden ist.«
Und zu Dr. Muckensturm gewandt fügte er hinzu, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte: »Und Sie besorgen dieses Buch, ‚Isabella‘ oder wie es heißt. In unserer doch so gut bestückten Fachbibliothek ist es nicht vorhanden. Das ist eine unglaubliche Schlamperei!«
Nach ihrem Gespräch mit der Zentrale gesellte sich Jenny wieder zu ihrer Gruppe, die an der Bar Platz genommen hatte. Xenia, die bis dahin im Unklaren geblieben war, was es zu feiern gab, wurde nur vage mit gelösten Gesundheitsproblemen konfrontiert. Angelika wusste nicht, wie ihre Freundin auf die ganze Wahrheit reagieren würde. Dennoch lud sie sie ein, mitzufeiern. Und so wurde es ein ausgelassenes Fest, das sich bis zum Abendessen hinzog.
Danach feierte Angelika mit ihrem Jonny in der Lounge weiter, sie wich ihm nicht von der Seite, nachdem sie nun sicher sein konnte, dass er gesund war und seine seltsamen Gefühle nun verschwunden waren. Hatte sie doch heimlich befürchtet, dass eine seltsame Geisteskrankheit von ihm Besitz ergriffen haben könnte. Als zum Tanzen aufgefordert wurde, konnte sie feststellen, dass er ein ganz ausgezeichnetes Musikempfinden hatte; sie selbst war nie eine begeisterte Tänzerin gewesen, doch in seinen Armen und mit seiner souveränen Führung glaubte sie geradezu zu schweben.
Unterdessen war es still geworden. In der Lounge waren nur noch wenige Gäste anwesend. Xenia war schlafen gegangen, da Arpad sich mit dem Hinweis auf einige Überprüfungsarbeiten für zwei bis drei Stunden und nicht mehr, wie er versicherte, verabschiedet hatte.
Nur im Bug des Schiffes ging es an diesem Abend zur Sache. Der Drang nach Blut war so stark angewachsen, es war nicht mehr zum Aushalten. Kurz, es musste etwas geschehen. Und zwar schnell. Die blonde Frau in der Suite war bereits zu Bett gegangen. Sie galt es zu besuchen. Und den Durst zu stillen.
Mit der dunklen Kleidung und der vorsichtshalber angelegten schwarzen Halbmaske war er im nächtlichen Freien fast unsichtbar, wenn er vorsichtig von Deckung zu Deckung schlich. Er brauchte nur abzuwarten, dass die neuerdings bereits seit zehn Uhr abends laufende Streife ihre Tour angetreten hatte und ihr so hinterher zu laufen, dass er dann jede Menge Zeit hatte, mit dem Generalschlüssel die Tür der Suite zu öffnen. Allein der Gedanke an den Biss, der folgen würde, und an den unvergleichlichen Geschmack nach warmem Kupfer ließen ihn neue Kräfte spüren.
Gleich war es so weit. Er schlüpfte durch die Tür und näherte sich dem Bett, doch dieses war – leer! Seine Gier ließ ihn alle Vorsicht vergessen, er warf die Bettdecke zurück: Nichts. Als er sich umdrehte, öffnete sich die Tür zur Toilette. Seine Beute, da war sie!
Er stürzte nach vor, stolperte über einen Schuh, der achtlos abgeschüttelt worden war und prallte gegen den Einbauschrank. Die Frau, die zuerst wie erstarrt gestanden war, fand ihre Stimme wieder und begann mit gellender Stimme zu schreien: »Einbrecher, Hilfe!« Und das immer und immer wieder.
Der Eindringling hatte sich im Handumdrehen aufgerappelt und sich auf sie gestürzt. Sein Mund öffnete sich und zeigte die überlangen Eckzähne, die durch den aktivierten Blutdurst gewachsen waren. Die Schreie der Frau steigerten sich zu einem Creszendo; mit einer geschickten Bewegung gelang es ihr, dem durch den Sturz irritierten Eindringling auszuweichen und die Tür zu erreichen.
Nun gellten die Schreie durch den Gang, auf dem gerade Jonny und Angelika zu ihren Kabine unterwegs waren. Durch die Frau im kurzen Negligé und der an ihr zerrenden dunklen Gestalt des blutversessenen Vampirs war der Gang blockiert. Jonny, mit dem Angelika Hand in Hand Richtung Kabine geschlendert