ich uns ein wunderbares Früstück. Ich bleibe nicht lange, ich beeil’ mich.« An der Tür verharrte sie. »Du hast doch keine Angst, allein?«
»Angst, phh«, machte er. »Tschüs, Mami«, und er wedelte ihr mit dem Händchen nach.
Sie hatte sich Geld besorgt, sie hatte im Supermarkt eingekauft und verließ ihn mit hochgefüllten Beutel und einer Tragetasche dazu, über der noch ein Netz von Orangen lag – da erstarrte sie plötzlich.
Dort stand er doch wieder, dieser schreckliche Mensch im blauen Trenchcoat, den stechenden Blick auf den Ausgang geheftet.
Sie hastete davon, prallte nach ein paar Schritten gegen einen Mann, der aus seinem Auto ausstieg. Das konnte die Rettung
sein.
»Bitte helfen Sie mir«, stieß sie hervor, »lassen Sie mich einsteigen, und fahren Sie los, bitte!«
»Hoppla, was soll denn das?«
Aber dann sah er in das flehend zu ihm aufgehobene Gesicht, sah den gehetzten Ausdruck darin und die große Angst in den Augen. Wortlos stieg er wieder ein und öffnete die Tür zur anderen Seite. Zwei Sekunden später saß sie neben ihm, mit ihren sämtlichen Sachen.
»Und wo soll es hingehen?« erkundigte er sich im Anfahren, halb belustigt, halb ärgerlich, daß er der Unbekannten nachgegeben hatte.
»Egal, irgendwohin – nur rasch weg von hier«, kam es abgerissen zurück. »Fahren Sie kreuz und quer durch ein paar Straßen, bitte…«
»Glauben Sie, daß ich am Morgen nichts anderes zu tun habe, als kreuz und quer spazierenzufahren? Man erwartet mich im Büro.«
Er tat ihr dennoch den Gefallen.
Julia wurde etwas ruhiger. Sie war sicher, daß sie den Mann im blauen Trenchcoat abgehängt hatten.
»Entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie aufgehalten habe«, sagte sie.
»Sie werden Ihren Grund dafür gehabt haben. Fühlen Sie sich verfolgt?« Es war kaum eine Frage, denn ihrem Benehmen nach konnte es nicht anders sein.
»Ja. – Fahren Sie jetzt bitte geradeaus und dann rechts. Dahinten in dem Hochhaus wohnen wir.«
Er hielt davor an, dann wandte er sich ihr zu. Mit einem aufmerksamen Blick umfaßte er ihr Gesicht. Sie hatte auffallend schöne Augen, stellte er bei sich fest. Plötzlich verspürte er den Wunsch, mehr über sie zu wissen, deren Bekanntschaft er auf so ungewöhnliche Weise gemacht hatte.
»Und wer ist wir?« fragte er.
Zum erstenmal sah auch sie ihn nun an. Ihr Retter mochte Anfang bis Mitte Dreißig sein, er sah sympathisch und vertrauenswürdig aus.
»Wenn Sie noch ein paar Minuten Zeit haben, können Sie ihn kennenlernen«, sagte sie. »Ich heiße Julia Rodenbach.«
»Mathias Walden.«
Sah es nicht so aus, als wäre er da in eine merkwürdige Geschichte hineingeraten? Wollte sie ihm jetzt ihren Mann vorstellen, oder was hatte sie vor? Er besaß genug Menschenkenntnis, um sich sicher zu sein, daß sie keine Frau war, die einen Fremden leichtsinnig mit in ihre Wohnung nahm.
»Geben Sie mir Ihre Taschen«, sagte er, und er nahm sie ihr ab. Schweigend fuhren sie im Lift empor. Sein Blick streifte ihre herabhängende Hand. Einen Ehering trug sie nicht.
Als sie die Tür aufschloß, bemerkte er, daß dort ein anderer Name stand als der, den sie ihm genannt hatte. A. Hafner war auf dem Schild zu lesen.
Ein kleiner Junge kam ihnen entgegengesprungen, barfuß, in einem viel zu weiten Hemd.
»Mami –« Das Wort blieb Florian im Halse stecken, als er den fremden Mann sah.
»Da bin ich wieder, mein Schatz.« Julia hob ihn auf und drückte ihn an sich. »Das ist Florian, er ist der Grund meiner Flucht«, sagte sie, zu ihrem Begleiter gewandt.
Florian versteckte den Kopf an ihrer Schulter. Er genierte sich,
daß ein Fremder ihn so sah, wie er gerade aus dem Bett gekommen war.
Seine Mutter ließ ihn aus ihren Armen gleiten. »Geh dich waschen und anziehen«, sagte sie sanft, »wir frühstücken gleich.«
Rasch, ohne noch einen Blick auf den Mann zu werfen, verschwand Florian im Duschraum. Julia nahm Mathias Walden die Taschen ab und stellte sie in die Küche.
»Ich möchte nicht, daß Sie etwas Falsches von mir denken, Herr Walden«, begann sie. »Mein geschiedener Mann will seinen Sohn für sich haben. Ich zweifle nicht daran, daß er einen Detektiv hinter mir her geschickt hat. Dem mußte ich entkommen.«
Wieder sah er sie aufmerksam an. »Ich verstehe nicht ganz«, sagte er vorsichtig. »Wem hat das Gericht das Kind denn zuerkannt?«
»Sie reden wie ein Rechtsanwalt«, stellte Julia fest.
»Ich bin Rechtsanwalt.«
Julia zuckte zurück. Der Hauch von Sympathie und Vertrauen verflüchtigte sich. »Ein Rechtsanwalt hat dafür gesorgt, daß mir mein Kind genommen wurde«, sagte sie bitter.
»Rechtsanwälte nehmen keine Kinder weg, sondern sie vertreten ihre Mandanten«, erwiderte Mathias Walden sachlich. »Am Ende entscheidet das Gericht, bei wem das Kind nach der Scheidung
lebt.«
»Dafür fand das Gericht die Familie meines Mannes offensichtlich geeignet«, sagte Julia mit abgewandtem Gesicht.
»Aber dafür muß es doch einen Grund geben. Normalerweise fällt die Entscheidung eher zu Gunsten der Mutter aus.«
»Sicher gibt es den«, versetzte Julia mit schmalen Lippen. »Die Rodenbachs haben ihren Einfluß geltend gemacht, sie haben sich den teuersten Rechtsanwalt gekauft, der ihr Verlangen rücksichtslos durchgesetzt hat.«
»Sprechen sie zufällig von den Rodenbachs, die das große Autohaus am Königsplatz haben?«
»Genau von diesen«, bestätigte Julia.
Einen Moment blieb es still zwischen ihnen. Nur ein Wasserplätschern war von nebenan zu hören.
»Aber wenn Julia dem Vater zugesprochen worden ist«, begann Mathias Walden von neuem, »wieso ist er dann hier bei Ihnen?«
»Weil das Kindermädchen nicht aufgepaßt hat«, antwortete Julia trotzig.
Mathias ahnte Schlimmes. »Wollen Sie damit sagen, daß Sie das Kind entführt haben?«
»Wenn Sie es so nennen wollen…« Mit einem beinahe feindseligen Blick sah sie ihn an. »Sie sind ja auch ein Rechtsanwalt. Sie können es wohl nur so sehen. Nach dem Gesetz, nach Paragraphen!« Voller Verachtung stieß sie diese beiden Worte hervor.
»Aber ich bitte Sie! Sie sollten uns doch auch nicht als Unmenschen betrachten.« Irgendwie empfand er Mitleid mit ihr. Sie schien nicht zu wissen, was sie getan hatte. Wahrscheinlich hatte sie ohne jede Überlegung gehandelt.
Ihre Blicke trafen sich. Julia wunderte sich etwas, eine gewisse Wärme in seinen Augen zu lesen, wo sie ihn doch eben angegeriffen hatte.
Sie bereute das plötzlich. Sie durfte doch nicht vergessen, daß er ihr geholfen hatte. »Entschuldigen Sie bitte, ich bin etwas durcheinander«, murmelte sie, und sie strich sich das Haar an der Schläfe zurück. Nach einer winzigen Pause fuhr sie erklärend fort: »Ich bin seit Dienstag in der Wohnung einer Verwandten, die zur Zeit nicht da ist. Bisher ist man mir noch nicht auf die Spur gekommen. Aber es wird wohl nicht mehr lange dauern. Und jeder Tag ist doch so kostbar.« Um ihre Lippen zuckte es.
Dr. Mathias Walden sah nach der Uhr. Seine Sekretärin würde sich fragen, wo ihr Chef abgeblieben war. Er verabschiedete sich und reichte der jungen Frau die Hand. »Ich wünsche Ihnen viel Glück.«
»Vielen Dank, für alles.«
Als er fort war, holte Julia ihren Florian, der immer noch in der Dusche herumtrödelte und eine Menge Wasser verspritzt hatte.