Йозеф Рот

Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke


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hatte.

      Nicht mehr ängstlich vor dem braunen Telephonapparat saß Fini, nicht mehr ratlos vor den buntgestreiften Schnüren.

      Nicht mehr zitterte die Luft vor dem Schrei Doktor Finkelsteins, des fürchterlich mit Brillengläsern funkelnden.

      Und am Nachmittag, spät, in die schiefen, gelben Strahlen der Sonne, liefen die Mädchen hinaus, und auf jede wartete einer.

      Eines Tages wartete Ludwig draußen. Fini hatte ihn vergessen, wie man einen Gegenstand vergißt, der tief auf dem Grund des Kastens ruht, des sorgsam gehüteten.

      Leise sprach er wieder, mit verschleierter Stimme, die wie ein Cello klang, barhaupt ging er, und sein weicher Hut steckte zusammengerollt in der Rocktasche.

      Erschrocken war Fini und spähte nach einer Nebenstraße, durch die sie flüchten könnte. Ungeschickt war sie und dachte nach, wie sie fliehen könnte, wenn sie gewandter wäre in der großen Kunst der Lüge und der Ausflüchte.

      Das war Ludwig, der Mann; weich ging seine Stimme, gern hörte sie ihren Klang. Einmal blickte sie seitwärts, um sein Angesicht zu sehen, und begegnete seinem Aug’, dem dreieckig sonderbar geschnittenen, den aufwärts fliehenden, schmalen Brauen, und sie dachte an Tilly.

      »Sie denken an Tilly«, sagte Ludwig, unheimlich, der Mann, ein wildes Tier, vor dem es keine Rettung gab.

      »Tilly ist eine dumme Frau«, sagte Ludwig und lachte kurz und tief. Nie hatte Fini sein Lachen gehört, es klang wie ein kleiner, samtener Donner.

      »Sie lieben den Maler Ernst?« fragte Ludwig.

      »Nein!«

      »Ich bin in Sie verliebt«, sprach Ludwig und steuerte in eine belebte Straße, in der sie sich aneinanderdrängen mußten.

      »Tilly hat Ihnen von mir Böses erzählt, und ich bin eigentlich nicht immer gut zu ihr gewesen. Aber Ihnen bin ich gut. Sie sind jung und schüchtern und ein bißehen dumm.«

      Von seinem Arm ging eine große Wärme aus, Fini fühlte sie durch das dünne Kleid.

      »Gehn wir in den Park«, sagte Ludwig.

      Es ist zu spät, hätte sie gerne gesagt, und sie mußte nach Hause. Dennoch ging sie an Ludwigs Seite und dachte an Tilly.

      Sie gingen durch den Park, und jeden Augenblick fürchtete Fini, Ernst zu begegnen.

      »Fürchten Sie nichts!« sagte Ludwig. »Ernst ist heute eingeladen!«

      Alles las er in ihren dummen Augen, und ihre Furcht stieg und schwoll an, und nun zitterte sie leise im Dämmer des Parks.

      Ludwigs Arm fühlte sie, und gleichzeitig fiel ihr Blick auf eine verborgene Bank. Da saß Tilly und neben ihr ein Mann.

      Ludwig lachte noch einmal kurz, wie vorher.

      Durch fremde, dunkle Alleen gingen sie, nicht mehr war es der vertraute Park, der gute, schattende. Weit waren die Klänge der Musik, aus einer fernen Welt kamen sie. Fremd war der Park und fremd der Teich und fremd die Wasserrosen, die auf ihm schwammen. Ludwig nahm den Arm nicht mehr weg, wie eine Fessel drückte er und schmerzte nicht.

      Plötzlich standen sie vor einem Haus, gingen sie eine Treppe empor, eine zweite, eine dritte, und müde wurde Fini, und ihr schwindelte vor den Treppen, die gewunden und mit ungewöhnlich hohen steinernen Stufen unendlich auf einen Turm zu führen schienen. Sah sie durch das Geländer hinunter, erblickte sie einen kleinen Ausschnitt des Flurs, ein dunkles, unbekanntes und rufendes Loch. Neben ihr ging Ludwig auf der schmalen Treppe, gedrängt an sie und Wärme verbreitend, und – blieb sie stehn und hoffte sie, daß er vorbeigehn oder zurückbleiben würde – so geschah dieses nicht, sondern auch er blieb auf demselben Treppenabsatz, und ihre Müdigkeit erriet er und legte seinen Arm um ihren Körper. Nichts sprachen sie, niemand begegnete ihnen, keine Stimme erscholl, und kein Laut wurde lebendig hinter den Türen der Wohnungen, an denen sie vorbeikamen. Fini hörte nur ihr eigenes und Ludwigs starkes Atmen. Sie wußte nicht, wohin er sie führte, und sie fürchtete sich auch nicht mehr. Eine große Leere war in ihr, und sie rastete eine Weile. Als lägen Schleier, stillende, über sie gebreitet, hörte sie gedämpftes Knarren einer Tür, und als blickte sie in einen Spiegel, sah sie sich selbst hineinschreiten in die weiße Helle des Ateliers.

      Notenblätter sah sie, verstreute, über Tischen und Stühlen, und eine wirre Welt, vor der sie Achtung bekam. Hoch wohnte Ludwig, unter einem gläsernen Dach, und es fiel Fini ein, daß es furchtbar sein mußte, so allein und so preisgegeben ein Gewitter zu erleben, Blitz und Donner und prasselnden Regen, nur durch Glas getrennt von dem Zorn des Himmels, aber nicht vor ihm geschützt. Jetzt sah man die Sonne fern hinter den Dächern rot verglühen, und die Gegenstände im Atelier bekamen eine warme, goldene Färbung. Geheimnisvolle Zeichen waren die Noten auf den großen, harten Papierbogen, halbbeschrieben nur lagen einige, und die schwarzen Notenköpfchen saßen auf den dünnen Linien wie winzige Vögel auf Telegraphendrähten.

      »Was soll ich Ihnen vorspielen?« fragte Ludwig, die Geige mit dem Kinn festhaltend, und mit unglaubhaft geschickten Fingern strich er an dem schmalen, weißglänzenden Bogen, als schliffe er ein Schwert, mit dem er Fini töten sollte. In einer großen Verlegenheit schwieg sie und suchte angestrengt in ihrem armen, vergeßlichen Kopfe nach dem Bild eines Konzertprogramms, auf dem ein Lied gestanden hatte, das ihr gefiel. Wenig wußte sie von Musik, Fini, die kleine, und schließlich fiel ihr ein, daß es auch gleichgültig sei, was er spielte.

      So fing er an mit tiefen, dunkelvioletten Tönen, die Helle gebaren, kühn gewölbt spannten sich Bogen aus Musik, weich geschwellt und silbern gekräuselt flossen Wellen aus Musik. In der Mitte hörte er auf und legte die Geige auf den Tisch, aufschreckend wie plötzlicher Lärm fiel die plötzliche Stille ein.

      Mitten aus der wirren Unordnung des gläsernen Schranks holte er die schlanke Likörflasche und zwei dünne Gläser mit unendlich zartem Geklirr. Fini trank Likör, zum erstenmal, er schmeckte süß und nach Orangenschalen, so ähnlich waren schon einmal gefüllte Schokoladenpralines gewesen – dieser Likör aber war nackt, nicht freundlich gebettet in lindernde Schale, und er ließ eine süße Taubheit zurück und schuf ein sanftes Schaukeln violettfarbener Lichtwellen vor den schläfrigen Augen.

      Noch hörte sie den Klang der plötzlich verstummten Geige und sah den abendlichen Himmel nahe über der gläsernen Decke des Ateliers. Sie hörte Ludwigs leise Bewegungen nicht und wußte nur, daß sie hier eingeschlossen war mit dem Mann, der gefährlich war, aber sie noch ruhen ließ, und sie genoß diese Stunde, die ihr blieb, wie ein Verurteilter die letzte Spanne Zeit genießt, die ihn von seiner Strafe scheidet.

      Nun stand er nahe bei ihr und sprach und sah ihr in die Augen und fiel, ehe sie begriffen hatte, in die Knie, barg seinen Kopf in ihrem Kleide und weinte. Es weinte Ludwig, der Mann, das Tier; sein Körper zuckte, seine breiten Schultern bebten. Fini, die kleine, verstand nicht, wie es gekommen war, sein Schmerz schmerzte sie.

      Weil wir so klein und gering sind, wird uns doppelt weh, wenn ein großer Mann, der hoch unter dem Himmel in Gottes Nähe lebt und schmelzende Melodien spielt, kleiner und geringer als wir vor uns liegt – und wir nur können ihn erlösen. So leicht fallen uns die Kleider ab, die welke, unbrauchbare Schale, locker werden die Knöpfe und lösen sich selbst. In uns siegt das Blut, das rote, schwer ist der Kopf, im Nebel sehen wir die behaarte Brust des Mannes, riechen den Duft, den tierhaft fremden, sehen das Gesicht, das fremde, in der Nähe fremdere. Fini schloß die ·Augen, fühlte ihre Brust in der warmen, gehüllten Schale seiner Hand, der schmerzhaft und liebend pressenden, spürte seine zuckenden Finger drückender in der heimlichen Höhlung des Knies. Heiß überhauchte sie sein heißer Atem und deckte sie zu, scharf biß er in ihre Lippen, und wie ein großer, betäubender, schmerzhafter und erschreckender Jubel kam in sie der Mann, in ihrem Innern fühlte sie ihn, glühend mit ihrem Körper verschmelzend und fremd, ein Gast in ihr und in ihr zu Hause.

      Langsam kehrte Fini wieder in die Welt, Ludwig küßte sie matt und leise. Ihr war, als leckte er ihr Gesicht mit heißer, vertrocknender