Йозеф Рот

Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke


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der Sitte und der mütterlichen Pflicht.

      Zum ersten Male ging Fini mit einem Mann des Abends durch den Park, den sie nur am hellen Nachmittag durchschritten, wenn auf den Bänken die Schläfer Sonne tranken; am Nachmittag nur wagte sie, die hurtigen Füße hemmend, über den Kies der Wege zu gehen und der Blumenbeete Reichtum zu bestaunen und, aufgeschreckt durch den wuchtenden Fall des Turmuhrschlages, die hämmernde Sorge wegen nachlässiger Verspätung durch zehnfach beschleunigten Schritt zu betäuben.

      Der Park war anders, dichter und dunkler, wärmer und gütig. Was hinter den Bäumen war, sah Fini nicht, was in der betäubenden Helle der Lampen sich zutrug, der stehengebliebenen silbernen Blitze, die den Weg bis zum nächsten Licht in schwärzere Nacht tauchten. Melodien, von der Terrasse kommend, flossen gedämpft durch dichtbelaubte Bäume und abgelenkt durch das Rauschen abendlichen Windes, auf- und abschwellend, in seltsam geschwungenen Wellen, und der starke Rhythmus eines bekannten Marsches glättete sich in der dunklen Allee zum Walzer.

      Und neben Fini ging der Mann, der siegreiche Mensch mit der tiefklingenden Stimme, und roch tierhaft und fremd, wie bitteres Kraut und Waldwurzel, und gleichgültig war, was er sagte. Wie unter einem segnenden Regen ging man unter dem gleichklingenden Strom seiner unverstandenen Reden und senkte den Kopf und spähte suchend nach einem bekannten Gesicht in der Fülle der Gesichter, das zu Hause verraten könnte.

      Auf die Terrasse des Restaurants stiegen sie, marmorne, herrliche Stufen empor, wie sie zu Thronen führen und gelbgetöntem, schmelzendem Vanilleeis in sanft gerundeten Tassen. In einem zärtlichen Winkel saßen sie, enge die Knie an die marmorne Platte des niedrigen Tisches gedrückt, und der silberne Klang eines kleinen Löffels, der klirrend ans Glas schlug, betäubte für den Bruchteil einer einzigen Sekunde.

      Dann sah man die schweigenden, marmornen Männer, gedrückt in das schwarze Grün der rauschenden Bäume, sah, wie die starren Gliedmaßen in der flutenden Stille der Nacht zu leben begannen. Zum erstenmal sah Fini so lebendige Denkmäler, hörte sie das Pochen des eigenen Herzens in den toten, nicht mehr toten, auferstandenen Dingen und fühlte den Kreislauf des eigenen Blutes in den Steinen, den Bänken, im Rasen und im Baum, in der nächtlich geschlossenen Wasserlilie auf der unhörbar murmelnden Oberfläche des Teiches und im düster ragenden Schilf.

      Den Park verließen sie, über die weiße Brücke, die von Lichtern bekränzte, gingen sie auf den schweigenden Marktplatz, in süßer Ratlosigkeit wandelnd, zwischen verlassenen Ständen, gedrängt in den kargen Schatten der niedrigen Dächer und der pferdelosen Wagen, der Karren und der aufgestapelten Fässer. Heimatlose Kinder, wandelten sie, ein Dach suchend, ein Haus für ihre Liebe. Sie gingen endlose Straßen hinunter, und wenn sie an einem Hotel vorüberkamen, hielten sie beide einen Augenblick inne und gingen dennoch weiter.

      Plötzlich, aufgetaucht an einer stillen Ecke, steht der Vater da, rastend auf den Krückstock gestützt, unter dem Licht einer Bogenlampe, mit einem einbeinigen Kameraden - sie kamen wohl beide aus dem Spital. Der Vater hob langsam seine lauschenden Augen und winkte ihr mit der Hand, und sie ließ Ernst und gab dem Alten die Hand, und der Vater tätschelte ihre Wange und zeigte sie dem Kameraden. Er sagte nichts, er schickte sie zurück mit einem leisen Wink des Zeigefingers. Fini lief zu Ernst, dem geduldig wartenden, und begann zu reden, als spräche sie nicht mit dem Mann, dem sieghaft nach Erde und Wurzeln riechenden, sondern mit einer vertrauten Freundin. Alles schüttete sie in sein lauschendes Ohr, die Sehnsucht der Kinder und die Furcht ihrer Tage und die Bedrängnisse im Büro und die Enge daheim. Sie erzählte von dem verloren gegangenen Bild und dem sehnsüchtigen Schmerz um die wandelnde Frau auf engem Pfad, zwischen traurig und fruchtlos blühenden Feldern; vom atemberaubenden Diktat des Doktor Finke1stein, des fürchterlich mit kalten Brillengläsern funkelnden, des ewig gefräßigen, immer überfallbereiten, mit flatternder Hutkrempe und drohend geschwungener Mappe. Vom braunen Apparat mit den verwirrenden Stöpseln und den verworrenen Bändern, den grüngestreiften, den rotgestreiften, den blauen, von herrschend schrillen Frauenstimmen, die den Doktor Blum, den Sozius, verlangten. Von rätselhaften Klappen, die aus rätselhaften Gründen mit leisem, klagendem Klang niederfielen. Von der Mutter vergeblichen Touren nach Purkersdorf mit der Westbahn und von der Tilly Verrat im Büro, wenn sie, Bleistifte spitzend, Briefmarken klebend, den hilfesuchenden Blick nicht erwiderte. Von verwirrten Akten, die unter fremde Buchstaben gerieten, unauffindbar, wenn man sie brauchte. Von des Vaters plötzlich eingebrochener Taubheit und der Notwendigkeit, eine Existenz zu gründen.

      Sie fuhren nicht mit der Bahn nach Hause, zu Fuß gingen sie den weiten Weg, durch die rauschenden Straßen der Stadt, in denen sich das Leben eisern und nicht mehr furchtbar über uns ern Köpfen wölbt. Wir sind nicht verloren an der Seite eines schützenden Bruders, dem unsere Geheimnisse gehören; unsere Furcht vor daheim, unsere Furcht vor der Welt ist dahin, Jahre sind her, seitdem wir das letztemal allein nach Hause gegangen sind, Jahre seit gestern, vergangene Wochen liegen weit zurück, sagenhaft verschollen die Zeit unserer furchtsamen Einsamkeit. Wir sind hungrig und fühlen keinen Hunger, müde sind unsere Füße, und wir könnten meilenlang schlendern, kühl wird es in der späten Abendstunde, uns friert es nicht.

      Neue Skizzen versprach Ernst und ein Wiedersehen auf dem Marktplatz, wo die Fässer standen, gehäuft neben der von Lichtern bekränzten Brücke – ein unauffälliger Ort, wo niemand sie finden sollte. Es war spät, nicht mehr lauerte boshaft hinter dem Geländer die Hausmeisterin. Aber erschreckend in seiner gutgemeinten Lautlosigkeit trat der Vater aus der Tür der benachbarten Schenke; er hatte gewartet, auf Fini gewartet, um sie und sich selbst zu retten vor den forschenden Fragen der Mutter; einen gemeinsamen späten Spaziergang wollte er vorschützen, und die Gelegenheit, sich einen guten Sechsundneunziger zu gewähren, lockte ihn.

      Sie stolperten beide die dunklen Treppen empor, eng umschlungen, beide kannten sie ihre Geheimnisse, die Sünder, und mutig traten sie in die Küche, der Mutter entgegen.

      Das Leben, gestern noch gedrängt in die Enge der Straße, der Stadt und des Hauses, in die vier tapezierten Wände des Büros – wie wuchs es über die Mauern in die Wälder. Im geizigen Schatten der nächtlich lagernden Fässer trafen sie sich jeden Tag, durch die leeren hölzernen Hütten gingen sie, rochen den Duft verkaufter Seefische und liegengebliebener Zwiebelschalen und gingen dennoch fromm vorbei an den toten Tischen und schlaffen Säcken, Hand in Hand, immer bereit, in der herrlichen Dürftigkeit einer Hütte ein Liebeslager aufzuschlagen und erschreckt durch den ferne hallenden Schritt des wandernden Polizisten, das Bellen des Hundes, das Schlurfen des Bettlers.

      Hinaus kamen sie mit der Straßenbahn, die unter hängenden Zweigen dahinfuhr, geliebkost vom dunkelblauen, schattenden Flieder, vorbei am grünen Segen der Gehöfte, am grauen Fluch der Kasernen, hinaus auf die hügelansteigende Landstraße.

      Im weichen Moose lagerten sie, auf steilen Pfaden hielten sie sich umklammert, oft waren ihre Körper einander nahe, und vor ihnen war die endliche Vereinigung, wie ein Feiertag nahe ist seinem Vorabend. Immer fühlte Fini den sanften Druck einer zärtlich gewölbten Hand auf ihrer kleinen Brust, huschende Fingerspitzen auf der kühlen Rundung der Schulter und des Oberarmes, immer wenn sie allein war und zu Hause, im Traum und wenn sie erwachte, im Büro, wo der Doktor Finkelstein seine Grausamkeit jäh verlor und der braune Apparat nicht mehr schreckte.

      Musik hörten sie, enge aneinandergedrückt in einer engen Reihe, von Menschen umgeben und allein. Es erschütterte sie ein plötzlicher leiser Sang, einen Schauer fühlte man auf der nackten Haut und wartete auf die Wiederkehr dieses einen süßen Tones. Es berauschte eine rauschende Welle und hüllte sie ein, wie eine große Stille vor einer Ohnmacht einzuhüllen vermag. Es glitten die seiden bespannten Fiedelbogen auf- und abwärts, und in der verschwimmenden Ecke liebkoste der Trommler mit demütig liebender Neigung des Oberkörpers die Triangel, daß sie silbern lächelte. Aus dem Gleichmaß der Bewegungen schwoll das warme Rauschen, keiner Stimme der Natur vergleichbar, keinem Sang menschlicher, tierischer Kehle. Schöner als Vogelsang war der samtene fluß der Flöte und der zierliche Sprung eines jugendlichen Tones auf den breiten Rücken des ehrwürdig rauschenden Tiefklanges. Aber stärker als Baß und dunkelviolettes Cello, herzlicher als der samtene Fluß der jungen Flöte, erschütternder als der große Wirbel der Pauke und der