Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke
Heimlich, des Nachts, an der Bettkante glättete Fini neu gesammeltes Silberpapier und kramte unter den sorglich gehüteten Schätzen das Bild hervor, die wandelnde Frau zwischen melancholisch blühenden Feldern.
Nicht mehr lauschte sie aufgeregt dem nächtlichen Geflüster der Eltern, nicht mehr spähte sie nach den heißen Geheimnissen der nachbarlichen Häuser. Immer noch pfiffen die Züge durch die Nacht, wölbte sich der Himmel über der schlafenden Straße, schlichen die Katzen, gedrückt an die Wände. Aber nichts mehr war wunderbar, nicht mehr lockte der sehnsüchtige Schrei der Lokomotiven, unverhüllt war das Geheimnis schleichender Tiere und nachbarlichen Tuns hinter blaßerleuchteten Gardinen. Leer lagen vor ihr die kommenden Tage, Tage ohne Furcht, ohne Hoffnung, wie ausgeräumte Gemächer, nichts konnten sie geben, nur den kärglichen Widerhall zaghafter Schritte. Gleichgültig war das Getriebe der Straße, nicht mehr spannte sich eisern das Leben, nicht mehr ging Fini ängstlich geduckt unter schmerzendem Joch.
Nicht mehr war sie die wandelnde Frau zwischen blühenden Feldern, und fern und verloren war Ernst, der vergeblich wartete im geizigen Schatten der nächtlich gelagerten Fässer.
Am Ende dieses Tages lauerte das Böse, das Tilly geschehen war, ferne noch lag es, aber sichtbar.
Inzwischen reihte sich eine abenteuerliche Stunde im Atelier an die andere, das Gespräch mit Ludwig an das Spiel seiner Geige. Er holte nicht die klirrenden Gläser aus dem Schrank und die schlankgeschliffene Likörflasche. Sie legten sich schlafen mit unerbittlichem Gleichmaß, und schal war das Aufstehen wie das Ende jeder sparsam genossenen Freude. Ein anderes Gesicht bekam Ludwig, wenn er zu Hause, entspannt und nicht mehr ringend um den eroberten Besitz, ohne Rock, in Pantoffeln herumging, nicht fremd mehr roch er, nicht tierhaft und nach bitteren Wurzeln, kein grausames Tier mehr – ein einsamer Mensch, alternd, kurzsichtig und mit spärlichem Haar, demütig und bittend, lässig und vergeßlich, von ärmlicher Sorge bedrückt und kleinen Schulden. Den warmen Celloklang verlor seine Stimme, er hörte zu spielen auf und war wie ein erloschener Krater.
Einmal erzählte er, daß er eine Brille haben müsse – und er kaufte sich eine mit schwarzem Hornrand und stark geschliffenen Gläsern. Verändert und entfremdet war er auf einmal, wie der Vater mit dem Hörrohr, und wenn er die Brille ablegte, suchte er mit verlegenen Augen nach Gegenständen, die ihm nahe waren und die er dennoch nicht greifen konnte.
Schüler, von denen er gelebt hatte, schickte er nach Hause, bestellte Arbeiten ließ er liegen. Oft hastete er, mühsam atmend, die Treppen empor und rannte wieder hinunter. Den Hut vergaß er und den Regen schirm. Flüchtige Küsse hauchte er auf den Nacken Finis, und während er mit ihr sprach, schweifte sein Auge ungeduldig über die Straße, den Platz, den Garten. Einmal brachte er einen Hund nach Hause, der sich verlaufen hatte, und am nächsten Tage kam der Besitzer, das Tier zu holen. Zwei Tage trauerte Ludwig um den Hund. Eine alte Nierenkrankheit wiederholte sich, weil er im Regen ohne Mantel ausgegangen war, und eine Woche lag er krank im Bett. Er wusch sich nicht, hatte Fieber, und sein Bart wuchs, graue Stoppeln umgaben sein Angesicht, tief in die Höhlen sanken seine dreieckig geschnittenen Augen. Zerrissen war seine Wäsche und mühsam geflickt und gelb das Leintuch, auf dem er lag. Besuche empfing er nicht. Freunde schickte er weg, ein Konzert in der Provinz gab er auf, die alte Wirtschafterin beschuldigte er des Diebstahls, und sie kam nicht mehr. Sein Haar lichtete sich schnell, an seinen Fingern wuchsen die Nägel, die Zigaretten schmeckten ihm nicht, schwarzen Kaffee trank er, um sich wach zu erhalten, und Brom nahm er, um einzuschlafen.
»Ich will dich heiraten«, sagte er zu Fini, und sie führte ihn nach Hause. Beschlossen war ihr Schicksal, vorbei das Jungsein, Mädchensein, Kindsein. Ihm war sie anheimgefallen, treu blieb sie ihm und brauchte das Schicksal Tillys nicht abzuwarten. Ein kranker, alter Mann war er, arm und verlassen, vom Leben, von der Musik, von den Freunden. »Wir werden zusammen wieder jung«, sagte er zu Fini. Sie führte ihn nach Hause, beklemmend legte sich ein Schweigen über das Zimmer, in dem sie saßen, die Mutter mit eilig übergeworfenem Schlafrock und der Vater mit dem bereitliegenden Hörrohr vor sich auf dem Tisch. Fini in der Mitte, zwischen ihm und den Eltern, mit hängendem Kopf, und die Fremdheit wuchs um jeden einzelnen, und jeder saß wie eingeschlossen in einer gläsernen Kugel, sah den andern an und erreichte ihn nicht. Endlich hub der Vater an, vom Krieg erzählte er, die Mutter fiel ein und wußte Gleichgültiges zu sagen. Mit behutsamen Worten lockten sie aus Ludwig Geständnisse heraus. Alter, Stand, Abkunft und Wohnung, Geburt und Eltern, und Ludwig erzählte, aufgelebt für eine Stunde, von den Tagen der Kindheit und von der lang verstorbenen Mutter, Sorgen des Berufs und Plänen für die Zukunft. Eine Musikschule wollte er errichten, in fremdes, reiches Land fahren, zweimal im Jahr, und mit dem Geld beladen wiederkommen. Noch war er nicht alt und krank, nein, verjüngt, müde nur des Junggesellenlebens, und er aß mit Appetit und breiten, mahlenden Kiefern eilig bereitete Speisen.
Spät schied er, Fini küßte er auf den Mund vor der weinenden Mutter, der Vater stieg mit nächtlicher Kerze die Treppe hinunter und leuchtete. Die Mutter umarmte Fini und küßte sie wieder, nach langer Zeit. Aus dem Kästchen nahm Fini die Bilder Ernsts und verbrannte sie mit leisem Schluchzen, Stück für Stück, an der knisternden Kerze.
XV
Noch sprach man von der Heirat nicht, aber sie lag in greifbarer Nähe, und Fini galt als erwachsen, eine Stimme im Haus, ein Mensch, nicht mehr dem Schelten untertan, sondern Güte fordernd.
Und es änderte sich nichts, und vom Klappern der Maschinen erfüllt waren die Tage.
Tilly fand einen Freund und dachte Ludwigs nicht mehr und nicht des erlittenen Unglücks.
Niemanden hatte Fini mehr, zu dem sie sprechen konnte, und sie hätte gern erzählt, wie die Welt jetzt aussah, eine Welt ohne Geheimnis, ohne Furcht und ohne Erwartung.
Früher – wie war unser pochendes Herz gespannt, die Straße, die wir dahinschritten, von Geheimnissen erfüllt, wie lauerten die Abenteuer hinter jeder Ecke, um die wir biegen sollten! Nun ist unsere Erwartung ausgelöscht, auf unsern Wegen eine Stille ohne Grenze, eine Landschaft ohne Fernen verbergende Hügel, alles wissen wir, Anfang und Ende, männliche Armseligkeit und unseres eigenen Angesichts bittere Zukunft.
Verrauscht war die süße Musik des Unbekannten, der gute lockende Sang anbrechenden Lebens, verblaßt die leuchtende Weite unendlich sich dehnender Tage und ausgekühlt die bergende Wärme der Jugend. Vollendet ist unser kurzer Weg, und fremd ist uns der Mann; jeden Tag wird er fremder.
Fini sah, wie er mit anderen Menschen sprach, lässige Gebärde nahm er an und hörte keine Antwort mehr, Pfeifen köpfe schnitzte er, stundenlang hockend auf niederem Schemel, Schokolade, lange im Vorrat gekauft, barg er sorgfältig vor ihrem genäschigen Auge, hoch oben unter Pappendeckeln, auf staubübersätem Schrank, kleine und große Rippen, gelb vor Alter gewordene, und Silberpapier sammelte er in dichten Knäueln zur Verzierung der Pfeifenköpfe. Zwischen den Notenständern, den weiß lackierten, im Winkel gehäuften, hielt er Tabak und Zigarren, die er niemals rauchte und niemals hergab, sorgfältig wachend mit hundescharfem Aug’. Kleiderstoffe lagerten geschichtet in wachsam raschelndem Papier, gestapelt im Schrank, unter den Hüllen gilbender Notenblätter.
Es war keine Sünde, ihm etwas zu stehlen, man stahl sich selbst etwas. Und manche Stunde, in der er hockend auf niederem Schemel einen Pfeifenkopf schnitzte, schlich Fini herum, stieg sie behend auf die Stühle, die knarrten, und auf splitternde Ständer, Schätze raffend. Schickte sie einen furchtsamen Blick dann in Ludwigs geschäftigen Winkel, sah sie, daß seine Augen zugefallen waren und daß er mit selbständig schnitzendem Messer seine Köpfe fertigmachte, dieweil seine Sinne schliefen, und sie weckte ihn.
Dann, plötzlich aufgewacht, besann er sich, strich die Weste zurecht und sammelte mit gespitzten Fingern Holzstaub und Schnitzer und begann zu erzählen von Fahrten in fremdes Land und ewig leuchtenden Sonnen. Manchmal gingen sie nebeneinander halbe Tage lang durch endlose Straßen, in den Auslagen der Konditoreien lockte schaumgefüllter Teig, braunleuchtend und süß. Hungrig war Fini, nach glattem, gelbschmelzendem Eis in sanft gerundeten Schalen sehnte sie sich. Hungrig ging sie mit Ludwig durch die Stadt. Von bösem Asthma bedrängt, mußte er sich setzen, und er