Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke
übertreiben, mein Herr, ich schätze Ihre Höflichkeit.‹
›Sie provozieren vielleicht!‹ sagte die Dame und sah in die Luft.
Es war der erste Satz, den sie direkt an mich gerichtet hatte, und sie sah mich nicht an, als wollte sie zu erkennen geben, daß sie, auch wenn sie zu mir sprach, nicht gerade unbedingt und nur zu mir sprach.
›Ich hoffe, daß Sie scherzen und keinen Verdacht –‹
›Es war ein Scherz‹, unterbrach mich der Rechtsanwalt. Wenn er sprach, bewegte sich sein Bart, ich versuchte, schon aus den Bewegungen zu erkennen, was er gesagt hatte.
›Vielleicht wird es Ihnen angenehm sein, mir von Frankreich zu erzählen. Es kommt selten jemand aus Ihrem Lande. Ich kenne es nicht.‹
›Es ist schwer, Frankreich zu beschreiben, einem Russen, der Europa nicht kennt‹, sagte der Sekretär, ›und es ist besonders für uns Franzosen schwer. Jedenfalls werden Sie aus unseren Büchern und Zeitungen nicht einen ganz genauen Eindruck haben. Was wollen Sie? Paris ist die Hauptstadt der Welt, Moskau wird es vielleicht noch werden. Paris ist außerdem die einzige freie Stadt der Welt. Bei uns wohnen Reaktionäre und Revolutionäre, Nationalisten und Internationalisten, Deutsche, Engländer, Chinesen, Spanier, Italiener, wir haben keine Zensur, wir haben loyale Schulgesetze, gerechte Richter –‹
›– und eine tüchtige Polizei‹, sagte ich, weil ich es aus den Erzählungen einiger Kommunisten wußte.
›Gerade über Ihre Polizei haben Sie sich nicht zu beklagen‹, sagte die Dame. Sie sah mich immer noch nicht an.
›Unsere Polizei haben Sie nicht zu fürchten‹, meinte der Sekretär. ›Wenn Sie einmal zu uns kommen wollten, nicht mit feindlichen Absichten natürlich – so können Sie immer auf mich rechnen.‹
›Sicherlich‹, bekräftigte der Bart.
›Ich werde mit den friedlichsten Absichten kommen‹, versicherte ich. Ich fühlte, wie treuherzig ich dabei aussah. Die Dame sah mich an. Ich betrachtete ihre schmalen roten Lippen und sagte, plump und kindisch, denn es schien mir, daß ich meine grobe Treuherzigkeit noch übertreiben müßte: ›Ich würde zu Ihnen kommen – Ihrer Frauen wegen.‹
›Oh, Sie sind charmant!‹ stieß der Bart sehr eilig hervor. Vielleicht hatte er Angst, daß seine Frau es sagen würde. Er konnte es trotzdem nicht verhindern, daß sie lächelte.
Ich hätte ihr gerne gesagt: Ich liebe Sie, Madame.
Sie begann zu sprechen, als wäre sie ganz allein:
›Ich könnte niemals in Rußland leben. Ich brauche den Asphalt der Boulevards, eine Terrasse im Bois de Boulogne, die Schaufenster der Rue de la Paix.‹
Sie verstummte plötzlich, wie sie zu sprechen angefangen hatte. Es war, als hätte sie alle duftenden, glänzenden Kostbarkeiten vor mir ausgeschüttet. Es lag an mir, sie aufzulesen, zu bewundern, zu besingen.
Ich sah sie an, minutenlang, nachdem sie aufgehört hatte. Ich wartete noch auf einige Herrlichkeiten. Ich wartete eigentlich auf ihre Stimme. Es war eine tiefe, scharfe und kluge Stimme.
›Nirgends lebt man so gut wie in Paris‹, fing der Sekretär wieder an, ›ich selbst bin ein Belgier. Es ist also kein Lokalpatriotismus.‹
›Sie sind aus Paris?‹ fragte ich die Dame.
›Aus Paris; wir wollen nachmittags ins Petroleumgebiet fahren‹, sagte sie schnell.
›Wenn Sie nichts dagegen haben, begleite ich Sie.‹
›Ich würde dann arbeiten und erst morgen früh hinfahren‹, sprach der Bart.
Vorher aß ich im vegetarischen Restaurant, denn ich hatte keinen Hunger. Auch das Geld ging zu Ende. Ich bekam erst in zehn Tagen Gehalt. Ich fürchtete, die Dame würde einen Wagen brauchen – ich hätte ihn noch bezahlen können. Aber wie, wenn sie mehr brauchte? Wenn sie plötzlich essen wollte? Ich durfte mir vom Sekretär nichts bezahlen lassen.
Ich aß ohne Appetit. Um halb drei Uhr stand ich in glühender Sonne vor dem Bahnhof.
Nach zwanzig Minuten kam sie in einem Wagen, allein.
›Sie werden mit mir allein fahren müssen‹, sagte sie. ›Wir haben beschlossen, Herrn de V. bei meinem Mann zu lassen. Er will in der Stadt herumgehen und hat Angst, weil er sich nicht verständigen kann.‹
Wir saßen zwischen Straßenhändlern, Arbeitern, halbverhüllten Mohammedanerinnen, obdachlosen Knaben, lahmen Bettlern, Kolporteuren, weißen Zuckerbäckern, die orientalische Süßigkeiten verkauften. Ich zeigte ihr die Bohrtürme.
›Es ist langweilig‹, sagte sie.
Wir kamen in Sabuntschi an.
Ich sagte: ›Es ist überflüssig, die Stadt zu sehen. Es wäre mühevoll, es ist heiß. Wir wollen auf den nächsten Zug warten. Wir fahren zurück.‹
Wir fuhren zurück.
Als wir wieder in Baku ausstiegen, schämten wir uns. Nach einigen Minuten sahen wir uns gleichzeitig an und lachten.
Wir tranken Sodawasser in einer kleinen Bude, die Fliegen summten, ein ekelhaftes Fliegenpapier hing am Fenster.
Mir wurde sehr heiß, obwohl ich unaufhörlich Wasser trank. Ich hatte nichts zu sagen, das Schweigen war noch drückender als die Hitze. Sie aber saß, unberührt von der Hitze, dem Staub, dem Schmutz, der uns umgab, und wehrte nur manchmal eine Fliege ab.
›Ich liebe Sie‹, sagte ich – und obwohl ich ohnehin ganz rot vor Hitze war, wurde ich noch röter.
Sie nickte.
Ich küßte ihre Hand. Der Sodawasserhändler sah mich böse an. Wir gingen.
Ich ging mit ihr durch die asiatische alte Stadt. Der Tag war noch voll. Ich verwünschte ihn.
Wir gingen zwei Stunden kreuz und quer. Ich fürchtete, sie würde müde werden oder wir könnten ihrem Mann und dem Sekretär begegnen. Wir gelangten zum Meer, ohne Absicht. Wir saßen am Kai, ich küßte immer wieder ihre Hand.
Alle Menschen sahen uns an. Ein paar Bekannte grüßten mich.
Die Nacht fiel schnell ein. Wir gingen in ein kleines Hotel, der Wirt erkannte mich, es ist ein levantinischer Jude. Er hält mich für einen einflußreichen Mann und ist wahrscheinlich froh, daß er etwas Intimes von mir weiß. Wahrscheinlich hat er sich vorgenommen, gelegentlich von seinem Geheimnis Gebrauch zu machen.
Es war finster, wir fühlten das Bett, wir sahen es nicht.
›Hier sticht etwas‹, sagte sie später.
Aber wir machten kein Licht.
Ich küßte sie, sie zeigte mit dem Finger dahin, dorthin, ihre Haut leuchtete im Dunkel, ich jagte mit zitternden Lippen ihrem hüpfenden Finger nach.
Sie stieg in einen Wagen, sie will morgen vormittag mit dem Mann und dem Sekretär wiederkommen. Sie wird Abschied nehmen. Sie fahren in die Krim und dann von Odessa nach Marseille.
Ich schreibe dies zwei Stunden, nachdem ich sie geliebt habe. Es scheint mir, daß ich es aufschreiben muß, damit ich morgen noch weiß, daß es wahr gewesen ist.
Soeben ist Alja ins Bett gegangen.
Ich liebe sie nicht mehr. Ihre stille Neugier, mit der sie mich seit Monaten empfängt, erscheint mir tückisch. So wie ein Schweigsamer einen Angeheiterten und einen Beredten aushorcht, so empfängt sie meine Liebe – –«
Sie kamen am nächsten Tag, von Tunda Abschied nehmen.
»Ich habe«, sagte der Rechtsanwalt, »Herrn de V. absichtlich gestern zurückgehalten. Ich bin überzeugt, daß man zwei Personen nicht soviel zeigen kann wie einer einzigen. Nach dem, was meine Frau gestern erzählt hat, müssen Sie eine Menge interessanter Dinge gesehen haben.«
Der