Йозеф Рот

Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke


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in dem Kampf der Menschheit gegen die Bazillen und die Galanterie.

      Klaras Beine waren sachliche, gerade Beine, Wanderbeine, keineswegs Instrumente der Liebe, sondern eher des Sports, ohne Waden. Daß sie in seidene Strümpfe gehüllt waren, schien ein unverzeihlicher Luxus. Irgendwo müssen sie doch Knie haben, dachte ich immer, irgendwo müssen sie in Schenkel übergehen, es ist doch unmöglich, daß Strümpfe in Unterhöschen hineinwachsen und damit basta?! Es war aber so, und Klara war kein Geschöpf der Liebe. Sie hatte sogar etwas wie einen Busen, aber es schien nur ein Etui für ihre sachliche Güte zu sein. Ob sie ein Herz besaß, wer kann es wissen?

      Ich habe bei dieser Beschreibung Klaras kein gutes Gewissen. Denn es scheint mir sündig, einen der tugendhaftesten Menschen, die mir im Leben begegnet sind, zuerst nach seinen sekundären Geschlechtsmerkmalen zu beurteilen. Sie war nämlich tugendhaft, Klara, wie konnte sie anders? Sie bekam ein Kind, natürlich von ihrem eigenen Mann, dem Kapellmeister – und obwohl es keineswegs eine Sünde, sondern im Gegenteil eine Tugend ist, von dem eigenen Mann Kinder zu bekommen, sah die legitime ehrwürdige Schwangerschaft bei Klara wie ein Seitensprung aus, und wenn sie das Kind säugte, war es wie das achte Wunder, wie eine Anomalie und eine Sünde zugleich.

      Übrigens konnte das Kind – es war ein Mädchen – schon im vierten Jahr radfahren.

      Von ihrem Vater, dem reichen Gutsbesitzer, hatte Klara ihre soziale Gesinnung gelernt und geerbt. Soziale Gesinnung ist ein Luxus, den sich die Reichen gestatten dürfen und der außerdem noch den praktischen Vorteil hat, daß er zum Teil den Besitz erhält. Ihr Vater pflegte mit dem Oberförster ein Gläschen Wein zu trinken, mit dem Förster einen Kognak und mit dem Forstgehilfen ein Wort zu wechseln. Auch die soziale Gesinnung kennt feine Unterscheidungen. Er ließ sich niemals die Stiefel von einem seiner Diener ausziehen, er benutzte aus Gründen der Menschlichkeit den Stiefelknecht. Seine Kinder mußten sich im Winter mit Schnee waschen, allein den weiten Weg in die Schule gehen, um acht Uhr abends in ihre stockdunklen Zimmer steigen und die Betten selbst machen. Nirgends in der Nachbarschaft hatten Dienstboten eine bessere Behandlung. Klara mußte ihre Hemden eigenhändig bügeln. Kurz: der Alte war, wie man zu sagen pflegt, ein Mann von Schrot und Korn, ein tugendhafter Grundbesitzer, eine lebendige Abwehrmaßnahme gegen den Sozialismus, weit und breit verehrt und in den Reichstag gewählt, wo er als Mitglied einer konservativen Partei den Beweis lieferte, daß Reaktion und Humanität nicht unvereinbare Widersprüche sind.

      Er erlebte noch Klaras Hochzeit, war loyal gegen den Kapellmeister und starb einige Wochen später, ohne auch nur mit einer Miene verraten zu haben, daß ihm ein Gutsbesitzer lieber gewesen wäre: Humanität bis zum Grabe.

      Georg war konziliant. Es gibt Eigenschaften, die man nur mit einem Fremdwort bezeichnen kann. Ein konzilianter Mensch hat es im Leben schwerer, als man glaubt: die Schwierigkeiten, mit denen er zu kämpfen hat, können sich derart verdichten, daß er mitten im Lächeln eine tragische Erscheinung wird. Georg, der lauter Erfolge hatte, von den Frauen unaufhörlich in Anspruch genommen wurde und nicht nur die Kapelle des Operntheaters, sondern auch einen Teil der Bürgerschaft dirigierte – Georg war unglücklich. Er war sehr einsam inmitten der liebenswürdigen Welt, der eigenen und der fremden Freundlichkeit. Er hätte lieber in einer feindlichen oder in einer gleichgültigen Welt gelebt. Seine Freundlichkeit bedrückte zwar nicht sein Gewissen, aber seinen Verstand, der ungefähr so stark war wie der Verstand unliebenswürdiger Menschen, die manche Feinde haben. Jede Lüge, die er sagte, würgte ihn. Er hätte lieber die Wahrheit gesagt. Doch stieß im letzten Augenblick seine Zunge den Beschluß seines Gehirns um, und statt der Wahrheit erklang – worüber Georg selbst manchmal erstaunte – irgendeine polierte runde Sache von rätselhafter, angenehmer, melodiöser Beschaffenheit. An der Donau und am Rhein, den beiden legendären Strömen Deutschlands, wachsen manchmal solche Männer – wenig ist von den harten Nibelungen übriggeblieben.

      Georg liebte seinen Bruder nicht – er vermutete in ihm den einzigen, der seine Lügen durchschaute. Er war froh, als man von Franz nichts hörte. Verschollen! – welch ein Wort! Welch ein Anlaß, traurig zu sein, traurig liebenswürdig, eine neue, bisher ungeübte Konzilianz. Dennoch war Georg der einzige, der vorläufig Franz helfen konnte.

      Deshalb teilte ich Herrn Georg Tunda mit, daß sein Bruder zurückgekommen sei.

      Hoch erfreut war darüber Klara. Jetzt hatte ihre Güte, lange Zeit tatenlos und ausgeruht, ein neues Objekt. Franz erhielt zwei Einladungen, eine herzlich aufrichtige und eine herzlich formvollendete. Die zweite stammte natürlich von Georg. Franz aber, der vor fünfzehn Jahren zuletzt mit seinem Bruder gesprochen hatte und daher weit davon entfernt war, ihn zu kennen – obwohl Georg gerade von Franz durchschaut zu sein glaubte –, Franz, der seinen Bruder nur der Musik wegen gehaßt hatte, Franz fuhr an den Rhein, in die Stadt der guten Oper und einiger Dichter von besserem Ruf.

      Unterwegs mußte er einmal umsteigen. Er hielt sich nirgends auf. Er sah von Deutschland nur die Bahnhöfe, die Schilder, die Reklametafeln, die Kirchen, die Gasthöfe in der Nähe der Bahn, die stillen und grauen Straßen der Vorstädte und die Vorortbahnen, die an müde, dem Stall entgegentrabende Tiere erinnern. Er sah nur die wechselnden Passagiere, einzelne Herren mit Aktentaschen in Cutaways, die jedes offene Fenster strafend ansahen und einen freien Platz mit finsterer Entschlossenheit einnahmen wie eine Festung. Sie schienen kampfbereit irgendeinen Feind zu erwarten, der zu ihrem Ärger nicht kam. Indessen studierten sie in Papieren, die sie den Taschen entnommen hatten, mit dem Eifer, mit dem man sich auf einen bevorstehenden Feldzug vorbereitet. Es mußten wichtige Papiere sein. Denn die Herren beschatteten sie mit ihren Armen, umrahmten sie oder nahmen sie gleichsam unter ihre Fittiche, damit kein unbefugter Blick sie treffe.

      Andere, weniger strenge Herren ohne Aktentaschen, in weltgewandten grauen Reiseanzügen setzten sich mit einem Seufzer, sahen freundlich auf den Gegenübersitzenden und begannen bald mit einem Gespräch, das einen ernsten, moralischen, wenn nicht tagespolitischen Inhalt hatte. Hier und dort stieg ein Jäger ein, die Flinte in braunem Lederfutteral in der Rechten, in der Linken – oder auch umgekehrt – einen Stock mit einem Hirschgeweih als Griff. Es sah teils gemütlich und teils bedrohlich aus.

      Tunda dachte mit Sehnsucht an die russischen Eisenbahnen und ihre harmlos geschwätzigen Passagiere.

      In allen Coupés hingen Land-und Ansichtskarten, Reklametafeln für deutschen Wein und Zigaretten, für Landschaften, Berge, Täler, Ledermäntel, Speisewagen, Zeitungen und Zeitschriften, für Sicherheitsketten, mit denen man Koffer so zuverlässig an die Gepäcknetze schmieden konnte, daß eventuelle Diebe auch noch daran hängenblieben, so daß man die Missetäter nach der Rückkehr aus dem Speisewagen gemächlich fassen und gegen eine Entlohnung beim Stationsvorsteher abgeben konnte. Man konnte sich aber auch, wollte man bequemer zu Geld kommen, gegen sogenannten Reisediebstahl versichern lassen, womit nicht der Diebstahl einer Reise, sondern der gelegentlich einer Reise gemeint war, gegen Eisenbahnunfälle, gegen die ohnehin schon Hacke, Beil und Säge in Glaskästen ausgestellt waren, um den Unfällen von vornherein zu drohen. Man konnte sein Leben, seine Kinder, seine Enkel versichern lassen, so daß man fröhlich, in der Erwartung eines nahen Zusammenstoßes durch Tunnels raste, enttäuscht wieder aus der Finsternis kam und in der nächsten Station Frankfurter Würstchen mit Senf essen durfte.

      Welch ein zuverlässiger Betrieb! Die Zeitschriften, die Würstchen, die Mineralflaschen, die Zigaretten, die Koffer, die Briefsäcke von der Post lagen sauber und in Fächern, hinter Glas und in Stanniolpapier und auf rollenden Karren, und wenn der Zug aus den großen Hallen glitt, die an Dome erinnerten, schien es, als rollten die Zurückgebliebenen, mit den Taschentüchern Winkenden, Schreienden, immer etwas Allerletztes noch Nachrufenden ebenfalls auf Rollschuhen. Selbst die Bahnhöfe standen nicht. Nur die Wächterhäuschen und die Signale standen wie Ehrenposten. Daß sie nicht in die Luft schossen, erschien wie eine Pflichtverletzung.

      Tunda stand im Korridor und rauchte, er sah die Tafel nicht, die es ausdrücklich verbot, weil der Mensch etwas Widersinniges nicht sieht. So will es die Natur. Außerdem rauchte noch ein anderer Herr, verbarg aber, als er mit geübtem Ohr den Schaffner kommen hörte,