Йозеф Рот

Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke


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weniger um die Einhaltung der Gebote als um die Einhaltung des Respekts. Der Schaffner machte nur Tunda aufmerksam, daß er Strafe zahlen würde – unter gegebenen Umständen, das heißt, wenn er, der Schaffner, nicht zufällig ein so gutmütiger Mensch wäre. Hierauf zerdrückte Tunda gehorsam die Zigarette, aber leider an der Fensterscheibe. Bei dieser Gelegenheit sagte ihm der brave Herr, der freiwillig die Pflichten des Schaffners auf sich zu nehmen gewillt schien, daß zum Ausdrücken der Zigaretten die Aschenbecher da wären, allerdings in den Abteilen.

      Tunda, von zwei Seiten in die Schule genommen, versuchte durch Höflichkeit einem drohenden Unterricht zu entgehen, dankte, verneigte sich und begann die Landschaft zu loben, gewissermaßen, um sich zu revanchieren. Der Herr fragte ihn, ob er ein Fremder wäre. Tunda freute sich wie ein Schüler, der mit seinem Klassenlehrer in einen menschlichen Kontakt gerät und zum Beispiel Schulhefte nach Hause tragen darf. Bereitwillig erzählte er, daß er geradewegs über Wien aus Sibirien komme.

      In Anbetracht dieses Umstandes, meinte der Herr, wäre es selbstverständlich, daß Tunda versucht hätte, die Zigarette an der Fensterscheibe auszudrücken.

      Wahrscheinlich gäbe es auch Läuse in Sibirien.

      »Freilich gibt es auch in Sibirien Läuse«, sagte Tunda zuvorkommend.

      »Wo denn sonst?« fragte der Herr mit einer hellen Stimme, die aus einem gläsernen Kehlkopf kam.

      »Nun, überall, wo Menschen wohnen«, erwiderte Tunda.

      »Doch nicht, wo saubere Menschen wohnen«, sagte der Herr.

      »Es wohnen auch in Sibirien saubere Menschen«, meinte Tunda.

      »Sie scheinen ja das Land sehr zu lieben?« fragte der Herr ironisch.

      »Ich liebe es«, gestand Tunda.

      Hierauf entstand eine Pause.

      Nach einigen Minuten erst sagte der Herr:

      »Man gewöhnt sich leicht an fremde Länder.«

      »Unter gewissen Umständen, ja.«

      »Ich war letzten Frühling in Italien«, begann der Herr, »Venedig, Rom, Sizilien – nachgeholte Hochzeitsreise, wissen Sie, man kam als Assessor ja gar nicht dazu – verzeihen Sie –«

      Hier erfolgte eine merkwürdige Verwandlung des Herrn, er war plötzlich um einen Kopf größer, seine trüben Augen blitzten kühn und blau, über seiner Nasenwurzel erschien ein winziges Koordinatensystem aus Falten –

      »Verzeihen Sie«, sagte der Herr mit vorgeneigtem Oberkörper: »Staatsanwalt Brendsen.«

      Gleichzeitig schlugen seine Fersen mit scharfem Knall zusammen.

      Tunda glaubte einen Augenblick, seine Verhaftung stünde bevor. Er besann sich, wurde ebenso ernst, machte Lärm mit den Stiefeln, nahm aktive Haltung an und schoß seinen Namen ab:

      »Oberleutnant Tunda.«

      Nachdem ihn der Staatsanwalt noch eine Weile gemustert hatte, setzte er seine Erzählung von der nachgeholten Hochzeitsreise fort.

      Es ergab sich später, daß der Staatsanwalt Tunda sogar eine Zigarette anbot, vorsichtig rechts und links nach dem Schaffner spähte und im Hinblick auf diesen äußerte:

      »Ein braver Kerl!«

      »Ein gewissenhafter Mensch!« stimmte Tunda zu.

      Diese Charakteristik schien den Staatsanwalt wieder aufzuregen, wahrscheinlich paßte ihm die Verbindung von »gewissenhaft« und »Mensch« nicht. Deshalb sagte er nur:

      »Na, na!«

      Unter solchem Zeitvertreib erreichten sie die Stadt am Rhein.

      Es war zehn Uhr abends.

      Auf dem Bahnsteig standen Menschen mit Regenschirmen, in nassen Kleidern. Die Bogenlampen schaukelten und wischten leichte Schatten über die feuchten Steine. Auf den Bogenlampen saßen viele Mücken und ließen sich wiegen. Man mußte sie bemerken, denn sie verdunkelten das Licht ganz erheblich, ließen aber dennoch nicht vergessen, daß es Bogenlampen waren.

      Alle wunderten sich über die schwache Leuchtkraft der Lampen, sahen auf und schüttelten die Köpfe über die Frechheit der Insekten.

      Tunda spähte, einen schweren Koffer in der Hand, nach einem bekannten Gesicht aus.

      Ihn zu erwarten, war natürlich Klara gekommen. Georg war aus mehreren Gründen zu Hause geblieben. Erstens war es ein Sonnabend, an dem der Klub tagte. In diesem Klub versammelten sich die Akademiker der rheinischen Stadt und die Künstler, die Journalisten und von den anderen Berufen nur diejenigen, die das Ehrendoktorat hatten. Die Stadt selbst hatte eine Universität, die Ehrendoktorate für die Aufnahme in den Klub verteilte wie Eintrittskarten. Denn man konnte die Statuten, die nur Akademiker aufzunehmen erlaubten, nicht umstoßen. Allmählich war der Andrang in den Klub und zu den Ehrendoktoraten so groß geworden, daß die Universität einen Numerus clausus für Stifter aus Industriellenkreisen einführen mußte, nachdem schon ein anderer Numerus clausus für ausländische Juden einige Jahre lang bestanden hatte. Den Numerus clausus gegen ausländische Juden hatten die einheimischen Juden durchgesetzt, die behaupteten, ihre Vorfahren wären schon vor der Zeit der Völkerwanderung absichtlich mit den Römern an den Rhein gekommen. Es sah beinahe so aus, als wollten die Juden sagen, ihre Vorfahren hätten den Germanen erlaubt, sich am Rhein anzusiedeln, weshalb es die dankbare Pflicht der heutigen Deutschen wäre, die rheinisch-römischen Juden vor den polnischen zu bewahren. In diesem Klub war Georg heute.

      Zweitens kam er nicht zur Bahn, weil er dadurch Klara ihres alten Vorrechts beraubt hätte, allein alle Angelegenheiten durchzuführen, die gewöhnlich in anderen Familien eine männliche Hand verlangen.

      Drittens kam Georg nicht, weil er ein wenig Angst vor dem Bruder hatte und weil ein friedlicher Bruder, sobald er schon im Zimmer und womöglich vielleicht auch noch im Bett lag, viel weniger gefährlich war als ein eben aus dem Zug gestiegener.

      Klara steckte in einer Lederjoppe aus braunem Kalb, es erinnerte an die Lederhemden, die mittelalterliche Ritter unter der Rüstung trugen. Sie erweckte den Eindruck, daß sie von weither kam, Gefahren in dunklen Wäldern zu bestehen hatte, sie erinnerte an Bürgerkrieg. Sie kam mit der offenen lauten Herzlichkeit verlegener und braver Menschen zu Tunda.

      »Ich habe dich gleich erkannt«, sagte sie.

      Dann küßte sie ihn auf den Mund. Dann versuchte sie, ihm den schweren Koffer abzunehmen. Er konnte ihn ihr nicht entwinden und lief neben ihr her, wie ein Kind, das ein Dienstmädchen von der Schule abgeholt hat.

      Vor dem Bahnhof sah er ein Gewimmel von Drähten, Bogenlampen, Automobilen, in der Mitte einen Schutzmann, der wie ein Automat die Arme streckte, rechts, links, aufwärts, abwärts, gleichzeitig aus einer Trillerpfeife Signale gab und so aussah, als würde er im nächsten Augenblick auch noch seine Beine für die Verkehrsregelung in Anspruch nehmen müssen. Tunda bewunderte ihn. Aus einigen Kneipen tönte Musik, sie füllte die Pausen, die der Verkehrslärm gelegentlich offen ließ, es war eine Atmosphäre von Sonntagsfreude, Becherklang, Steinkohle, Industrie, Großstadt und Gemütlichkeit.

      Der Bahnhof schien ein Zentrum der Kultur zu sein.

      Tunda kam erst zu sich, als sie vor der Villa des Kapellmeisters hielten.

      Da war ein Gitter, das sofort zu knarren anfing, wenn man einen Knopf drückte, und gleichzeitig leicht aufging wie Butter. Da stand ein Diener in blauer Livree und verneigte sich wie ein Edelmann. Man ging über knirschenden nassen Kies, es war, als hätte man Sand zwischen den Zähnen. Dann kamen ein paar Treppen, auf deren oberster, unter einer silbernen Bogenlampe, ein weißes Mädchen stand, wie ein Engel, mit Schwingen am Hinterkopf, mit sanften braunen Augen und knicksenden Beinen. Dann kamen sie in eine braungetäfelte Halle, in der man Hirschgeweihe vermißte und in der eine Beethovenmaske das Jagdgerät vertrat.

      Denn der Herr dieses