Йозеф Рот

Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke


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nötig wäre, ihn durch irgendein Attribut zu kennzeichnen, so würde ich sagen, daß seine deutlichste Eigenschaft der Wunsch nach Freiheit war. Denn er konnte seine Vorteile ebenso wegwerfen, wie er Nachteile abzuwenden wußte. Er tat das meiste aus Laune, manches aus Überzeugung, und das heißt: alles aus Notwendigkeit. Er besaß mehr Lebenskraft, als die Revolution augenblicklich nötig hatte. Er besaß mehr Selbständigkeit, als eine Theorie, die sich das Leben anzupassen sucht, brauchen kann. Im Grund war er ein Europäer, ein »Individualist«, wie gebildete Menschen sagen. Er brauchte, um sich auszuleben, kompliziertere Verhältnisse. Er brauchte die Atmosphäre verworrener Lügen, falscher Ideale, scheinbarer Gesundheit, haltbaren Moders, rotbemalter Gespenster, die Atmosphäre der Friedhöfe, die wie Ballsäle aussehen, oder wie Fabriken, oder wie Schlösser, oder wie Schulen, oder wie Salons. Er brauchte die Nähe der Wolkenkratzer, deren Baufälligkeit man ahnt und deren Bestand für Jahrhunderte trotzdem gesichert ist.

      Er war ein »moderner Mensch«.

      Freilich lockte ihn seine Braut Irene. Er hatte den Weg, vor sechs Jahren begonnen, ein wenig unterbrochen. Er nahm ihn wieder auf. Wo lebte sie? Wie lebte sie? Liebte sie ihn? Hatte sie auf ihn gewartet? Was wäre er heute gewesen, wenn er damals zu ihr gelangt wäre?

      Ich gestehe, daß ich, nachdem ich Tundas Brief gelesen hatte, zuerst alle diese Fragen überlegte und nicht die nächste: wie Tunda zu helfen? Ich wußte, daß er zu den Menschen gehörte, denen eine materielle Sicherheit gar nichts bedeutet. Er hatte niemals Furcht unterzugehen. Er hatte niemals die Angst vor dem Hunger, die heute fast alle Handlungen der Menschen bestimmt. Es ist eine Art Lebenstüchtigkeit. Ich kenne ein paar Menschen dieser Art. Sie leben wie Fische im Wasser: immer auf der Jagd nach Beute, niemals in der Furcht vor dem Untergang. Sie sind gefeit gegen Reichtum und gegen Elend. Entbehrungen sieht man ihnen nicht an. Daher sind sie auch mit einer Hartherzigkeit ausgestattet, die sie die private Not anderer nicht empfinden läßt. Sie sind die größten Feinde der Barmherzigkeit und des sogenannten sozialen Empfindens.

      Sie sind also die geborenen Feinde der Gesellschaft.

      Ich dachte erst eine Woche später daran, Tunda zu helfen. Ich schickte ihm einen Anzug und überlegte, ob ich nicht an seinen Bruder schreiben sollte, mit dem Tunda seit seinem Eintritt in die Kadettenschule nicht gesprochen hatte.

      Tundas Bruder Georg war Kapellmeister in einer mittelgroßen deutschen Stadt.

      Eigentlich hätte Franz Musiker werden sollen. Der alte Major Tunda wußte die musikalische Begabung seines jüngeren Sohnes nicht zu schätzen. Er war ein Soldat, für ihn war ein Musiker ein Militär-Kapellmeister, ein Zivilbeamter, durch einen ganz ordinären Vertrag mit der Armee verbunden, immer in der peinlichen Lage, gekündigt werden zu können, mit einer geringen Pensionsberechtigung, wenn es nicht geschah. Der Major hätte aus dem einen Sohn am liebsten einen Staatsbeamten gemacht, aus dem anderen einen Offizier.

      Georg fiel eines Tages, brach ein Bein und sollte sein Leben lang hinken. Er konnte die Schule nicht mehr regelmäßig besuchen. Franz hatte Musikunterricht genommen, Musiker werden wollen. Da aber die Krankheit des Bruders viel Geld kostete, Georg durch sein Gebrechen dem Major ohnehin nicht mehr gefiel, entschied er, daß die Musikstunden von nun ab Georg zu nehmen habe.

      Franz kam aus Sparsamkeitsgründen in die Kadettenschule.

      Damals haßte Franz seinen Bruder. Er beneidete ihn um das Glück, gefallen zu sein und das Bein gebrochen zu haben. Er wollte um jeden Preis die Kadettenschule verlassen. Er hoffte, eines Tages auch zu fallen und ein Bein zu brechen oder einen Arm. Was dann geschehen sollte, kümmerte ihn nicht mehr. Er wünschte sich zumindest einen Herzfehler. Er glaubte sehr schlau zu sein. Aber die Resultate seiner Bemühungen waren das Entzücken seiner Lehrer und seines Vaters und ausgezeichnete Prognosen für eine militärische Laufbahn.

      Je größer seine Erfolge in der Kadettenschule wurden, desto stärker haßte er seinen Bruder. Georg studierte inzwischen an der Musikakademie. Zu den Weihnachts-und Osterferien mußten beide Brüder nach Hause kommen. Sie schliefen in einem Zimmer, aßen an einem Tisch und sprachen kein Wort miteinander. Sie unterschieden sich übrigens äußerlich stark. Franz sah seinem Vater ähnlich, Georg der Mutter. Es ist möglich, daß er durch das Gebrechen und durch den Zwang, im Zimmer zu bleiben, durch Einsamkeit und Nachdenklichkeit und Beschäftigung mit Büchern den traurigen Gesichtsausdruck bekam, der die meisten Juden auszeichnet und manchmal überlegen erscheinen läßt. Franz aber unterdrückte durch seine Lebensweise die tragischen Anlagen, die er vielleicht von seiner jüdischen Mutter geerbt hatte. Im übrigen möchte ich eher der Beschäftigung eines Menschen als seiner Rasse einen Einfluß auf seine Gesichtsbildung einräumen. (Ich habe schon antisemitische Bibliothekare gesehen, die, ohne aufzufallen, in jedem westjüdischen Tempel Vorbeter hätten sein können.)

      Die beiden Brüder sprachen also nichts miteinander.

      Es war Franz, mein Freund, der Urheber dieser verdrossenen Schweigsamkeit. Denn Georg war, wie man bald sehen wird, eine konziliante Natur. Er war der verwöhnte Liebling der Mutter. Darum beneidete ihn Franz fast mehr als um das lahme Bein. Er hätte gerne in der warmen Nähe der Mutter gelebt, nicht in der herben, kühlen und alkoholhaltigen Luft, die den Vater umwehte. Jedes Lob des Vaters schmerzte ihn. Jede Liebkosung, die Georg von der Mutter zuteil wurde, schmerzte ihn noch mehr.

      Es waren die Ferienmahlzeiten im elterlichen Haus, die Franz niemals vergaß und von denen er manchmal erzählte. Da saß er an der linken Seite des Vaters, gegenüber der Mutter, neben der Mutter saß Georg, der Kusine Klara gegenüber, die ein Lyzeum in Linz besuchte und in Georg verliebt war. Man hätte glauben sollen, daß ein lahmer Musiker in den Augen eines jungen Mädchens auf jeden Fall weniger zu bedeuten hat als ein gesunder mutiger Kadettenschüler. Dem war aber nicht so. Die Mädchen, besonders die aus den Lyzeen, die mit der besonderen Vorliebe für Turnen und Ausflüge, sind mehr für Hinkende als für Reitende eingenommen und mehr für Musikalisches als für Martialisches. Das hat sich nur für die vier Jahre des Weltkrieges geändert, als sogar die Musik selbst, die Gymnastik und die Natur in den Dienst der Vaterländer traten, mit ihren männlichen und weiblichen Anhängern. Damals aber, als die schweigsamen Mahlzeiten im Tundaschen Hause stattfanden, war die Welt noch weit vom Kriege entfernt. Franz hatte Anlaß genug, auf Georg eifersüchtig zu sein.

      Es kam gelegentlich vor, daß sie in ihrem gemeinsamen Zimmer gleichzeitig erwachten. Ihre Augen trafen sich, es fehlte wenig und einer hätte dem anderen guten Morgen gesagt. Denn so selbstverständlich war ihre Feindschaft, daß sie beinahe schon eine Fremdheit wurde, im Laufe einer Nacht vergessen – und wenn nicht vergessen, so doch keineswegs gewachsen. Aber dann besann sich der eine oder der andere – gewöhnlich war es Franz, der sofort umkehrte und so lange weiterschlief, bis der Bruder angezogen war und das Zimmer verlassen hatte.

      Nach dem Krieg heiratete Georg seine Kusine.

      Er heiratete seine Kusine aus Mangel an Phantasie, aus Bequemlichkeit, aus Gewohnheit, aus Courtoisie, aus konzilianter Freundlichkeit, aus praktischen Gründen – denn sie war die reiche Tochter eines reichen Grundbesitzers. Nur ein Mann, dem es an Phantasie mangelte, konnte sie heiraten, denn sie war eine von den Frauen, die man »gute Kameraden« nennt und die einen Mann mehr stützen als lieben können. Man kann sie gut verwenden, wenn man zufällig Bergsteiger, Radfahrer oder Zirkusakrobat ist oder auch gelähmt in einem Rollstuhl liegt. Was aber ein normaler Städter mit ihnen anfängt, ist mir immer rätselhaft geblieben.

      Klara – schon dieser Name scheint mir verräterisch – war ein guter Kamerad. Ihre Hand glich ihrem Namen, sie war so einfach, so gesund, so bieder, so zuverlässig, so ehrlich, daß ihr nur noch die Schwielen fehlten, es war die Hand eines Turnlehrers. Klara hatte, sooft sie einen Mann begrüßen mußte, Angst, er könnte ihr die Hand küssen. Sie gewöhnte sich deshalb einen ganz besonderen Händedruck an, einen resoluten, biederen, bei dem der ganze Unterarm des Mannes nach unten gedrückt wurde – schon dieser Händedruck war eine Turnübung. Man ging gestärkt daraus hervor. In Deutschland und in England, in Schweden, Dänemark, Norwegen, in vielen protestantischen Ländern gibt