Йозеф Рот

Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke


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in seine alte Naivität zurückfiel.

      »Nicht reich!« lächelte Klara verzeihend, deren soziales Gewissen sich mehr gegen das Wort als gegen den Zustand empörte:

      »Wir leben nur kultiviert. Georg muß es haben.«

      Georg kam erst in einer Stunde nach Hause.

      Er war im Smoking, hatte weiße und glattgepuderte Wangen, roch nach Wein und Rasierseife, was zusammen einen Geruch von Menthol ergab.

      Franz und Georg küßten sich zum erstenmal in ihrem Leben.

      Der Kapellmeister hatte vor Jahren von russischen Flüchtlingen einen silbernen Samowar gekauft, als Kuriosität. Zu Ehren des Bruders, der eine Art Russe geworden sein mochte, wurde das Möbelstück von dem livrierten Diener auf einem rollenden Tischchen hereingefahren. Der Diener trug weiße Handschuhe und griff mit einer silbernen Zuckerzange kleine Kohlenwürfel, um den Samowar zu heizen.

      Ein Gestank wie von einer Kleinbahnlokomotive erhob sich.

      Hierauf mußte Franz darlegen, wie man einen Samowar behandelt. Er hatte in Rußland keinen benützt, gestand es aber nicht, sondern verließ sich auf seine Intuition.

      Indessen sah er viele jüdische Geräte im Zimmer, Leuchter, Becher, Thorarollen.

      »Seid ihr zum Judentum übergetreten?« fragte er.

      Es stellte sich heraus, daß in dieser Stadt, in der die ältesten jüdischen verarmten Familien wohnten, viele kostbare Geräte von künstlerischem Wert »halb umsonst« zu haben waren. Übrigens gab es in anderen Zimmern auch Buddhas, obwohl weit und breit am Rhein keine Buddhisten leben, es gab auch alte Handschriften von Hütten, eine Lutherbibel, katholische Kirchengeräte, Madonnen aus Ebenholz und russische Ikonen.

      So leben Kapellmeister.

      Franz Tunda schlief in einem Zimmer, das der modernen Malerei gewidmet war. Auf seinem Nachttisch dagegen lag »Der Zauberberg« von Thomas Mann.

      Als er am nächsten Tag erwachte, war es Sonntag.

      Hochmoderne, von pazifistisch umgestellten Kanonenfabriken aus Kriegsmaterial erzeugte Glocken riefen die Welt zum Gebet.

      Im Hause roch es nach Kaffee. Beim Frühstück erfuhr Tunda, daß es ein koffeinfreier Kaffee war, der dem Herzen nicht schadete und dem Gaumen schmeckte.

      Der Kapellmeister schlief noch. Künstler brauchen Schlaf. Klara aber hatte auch in der Ehe die gesunde Sitte ihres Elternhauses nicht vergessen. Sie erwachte wie ein Vogel mit dem ersten Sonnenstrahl. Mit dünnen Gummihandschuhen, wie sie die Operateure gebrauchen, wischte sie den Staub von den religiösen Gegenständen.

      Tunda beschloß spazierenzugehen.

      Er ging in die Richtung, aus der das Klingeln der Straßenbahn von Zeit zu Zeit ertönte. Er ging durch stille Gartenstraßen, in denen gutgekleidete Knaben und Mädchen auf Fahrrädern schön geschlungene Schleifen machten. Dienstmädchen kehrten vom Gottesdienst heim und kokettierten. Stolze Hunde lagen wie Löwen hinter den Gittern.

      Herabgelassene Jalousien erinnerten an Ferien.

      Dann geriet Tunda in den a}ten Stadtteil, zwischen bunte Giebel, zwischen Weinstuben mit mittelhochdeutschen Namen; armselig gekleidete Männer kamen ihm entgegen, offenbar Arbeiter, die zwischen gotischen Buchstaben wohnten, aber wahrscheinlich in Bergwerken internationaler Besitzer ihr Brot verdienten.

      Musik ertönte. Junge Männer, in Doppelreihen, mit Stöcken bewaffnet, marschierten hinter Pfeifern und Trommlern. Es klang wie Musik von Gespenstern oder wie von einer Art militarisierter Äolsharfen. Die jungen Leute marschierten mit ernsten Gesichtern, keiner sprach ein Wort, sie marschierten einem Ideal entgegen.

      Hinter und neben ihnen, auf den Bürgersteigen und in der Straßenmitte marschierten Männer und Frauen, im gleichen Schritt, sie gingen auf diese Weise spazieren.

      Alle marschierten zum Bahnhof, der wie ein Tempel aussah, Gepäckträger hockten auf den steinernen Stufen wie numerierte Bettler. Die Lokomotiven pfiffen sakral und ehrwürdig.

      Die Doppelreihen fielen ab und verschwanden im Bahnhof.

      Hierauf machten die Begleiter kehrt, mit lässigerem Schritt, verklärten Gesichtern, das Echo der Pfeifen noch in den Seelen. Es war, als hätten sie eine freudige Pflicht erfüllt und als dürften sie sich jetzt dem Sonntag mit ruhigem Gewissen hingeben.

      Über die Straße fegten abgeschminkte Freudenmädchen außer Dienst. Sie gemahnten an den Tod. Einige trugen Brillen.

      Eine Gruppe hurtiger Radfahrer glitt klingelnd einher. Würdig, mit Rucksäcken, wanderten kindlich gekleidete Männer in die Berge.

      Vereinzelte, gleichsam versprengte Feuerwehrmänner spazierten blinkend mit Weib und Kind.

      Kreiskriegerverbände lockten auf den Litfaßsäulen mit großen Militär-Doppelkonzerten.

      Hinter den großen Spiegelscheiben der Kaffeehäuser türmte sich Schlagsahne vor genußfreudigen Menschen in Korbstühlen.

      Ein verwachsener, komischer Zwerg verkaufte Schnürsenkel.

      Ein Epileptiker lag zuckend in der Sonne. Viele Menschen standen um ihn. Ein Mann erläuterte den Fall wie in der Hochschule. »Er muß immer im Schatten gehn«, so schloß er seine Ausführung.

      In kleinen Gruppen kamen junge Männer einher, mit viel zu kleinen Mützen, schwarz verpackten Gesichtern und gläsernen Augen hinter gläsernen Brillen. Es waren Studenten.

      In der Ferne rauschte der Rhein.

      Es kamen auch noch andere Männer mit Studentenkappen aus Papier.

      Aber es waren keine Studenten: es waren Schornsteinfeger, gewaschene, die ein Fest veranstaltet hatten.

      Würdige Greise führten Hunde spazieren und Greisinnen.

      In der Ferne ragten grün patinierte Kirchenspitzen. Aus Weinstuben scholl Gesang.

      Schatten verdichteten sich plötzlich über der Stadt, ein schneller Platzregen ging nieder, weißgekleidete Frauen ließen ihre rundgezackten weißen Unterröcke sehen, es war wie ein zweiter Sommer aus Leinwand.

      Über hellen strahlenden Kleidern wölbten sich schwarze Schirme. Alles sah aus wie eine traumhafte, etwas überstürzte, nasse Totenfeier.

      Tunda wurde hungrig, vergaß, daß er kein Geld hatte, und trat in eine Weinstube. Als er die Preise auf der Karte sah, wollte er wieder hinausgehen. Drei Kellner verstellten ihm den Weg.

      »Ich habe kein Geld!« sagte Tunda.

      »Bitte nur den Namen«, sagte der Kellner.

      Als er seinen Namen nannte, wurde Tunda als Herr Kapellmeister behandelt.

      Sein Bruder begann ihm zu imponieren.

      Ein buckliger Mann trat in das Lokal, gedrückt, krank, mit flehenden Augen und furchtsam zitternden Beinen schlich er von Tisch zu Tisch und legte überall einen Zettel hin. Er tat es wie eine geheime Sünde.

      Auf dem Zettel las Tunda:

      Tanz und Gymnastik.

      Schulung des Körpers: Entspannung – Spannung,

      Elastizität, Schwung, Impuls, Gehen, Laufen,

      Springen, Eurhythmie, Raumgefühl, Choreographie,

      Harmonielehre der Bewegung, ewige Jugend,

      Improvisationen zu Musikbegleitung bis zur Gruppenform.

      Er aß, trank und ging hinaus.

      Er erkannte die Straße nicht wieder. Die nassen Steine trockneten schnell. Am Himmel stand ein Regenbogen. Die Straßenbahnen fuhren schwer, mit vielen Menschen bepackt, der Natur in die Arme. Betrunkene stolperten über sich selbst. Die Kinos öffneten