Franz Taut

Die schweigenden Kameraden


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suchte sein Zimmer auf und drehte an der Kurbel des Feldtelefons, auf das er als »Einheitsführer« Anspruch hatte. Als die Hausvermittlung sich meldete, bat er darum, Schwester Elfriede an den Apparat zu holen.

      Wenige Minuten später fragte Elfie in notwendigerweise dienstlichem Ton, was der Herr Leutnant wünsche.

      »Dich will ich sehen«, sagte er. »Komm doch mal ’rauf!«

      »Ganz unmöglich, Herr Leutnant«, antwortete sie. »Wir haben in der Küche Hochbetrieb. Vielleicht später – in einer Stunde – aber nur für einen Moment.«

      Enttäuscht legte er auf und fragte sich, ob die schwarzhaarige Tilda Höhnhauser ihm wohl einen Korb gegeben hätte, wenn er auf den Einfall gekommen wäre, sie auf ein Glas Whisky zu sich zu bitten. Doch im nächsten Augenblick wies er diesen Gedanken als völlig absurd und abwegig von sich. Die Dalmatinerin war schließlich eine verheiratete Frau.

      Er fragte sich plötzlich, was sie überhaupt in dem Hotel zu suchen hatte, in dem nur Soldaten und die Rotkreuzschwestern wohnten. Die Bemerkung des Doktors, seine Frau sei viel unterwegs und habe eine Menge Freunde in der Stadt, fiel ihm ein. Aber damit waren sicherlich Einheimische gemeint, nicht etwa Angehörige der Wehrmacht, für die das Ehepaar Höhnhauser begreiflicherweise nur wenig übrig hatte. Doch gleichviel, schließlich war er nicht der Aufpasser von Frau Höhnhauser und ebensowenig der Hüter des Soldatenheims.

      Staude legte Mütze, Koppel und Feldbluse ab, ließ sich in einem mit rotem Plüsch bezogenen Sessel nieder und schenkte sich nachdenklich ein Glas Whisky ein.

      Das ganze Dasein, wie es sich ihm seit seiner Ankunft in Dubrovnik bot, war unglaublich und beinahe unwirklich. Drei Jahre lang hatte er sich an der Ostfront herumgeschlagen, nachdem er den Polen- und den Westfeldzug glücklich hinter sich gebracht hatte. Aus einer Welt des Todes und unvergesslicher Schrecken war er in ein friedliches, sonniges Paradies versetzt worden, und sogar die Eva fehlte nicht, auch wenn sie nur selten Zeit für ihn hatte und verstohlen für eine kurze Stunde zu ihm hereinschlüpfte.

      Wie lange würde diese kaum fassbare Feuerpause anhalten? An den Fronten, nicht nur im Süden und Westen, wo der Feind endgültig Fuß gefasst hatte, sondern vor allem auch im Osten hatte die entscheidende Phase des Krieges begonnen. Noch deutlicher als sonst empfand Leutnant Staude, wie zerbrechlich die Ruhe war, die er in der unversehrten Stadt an der Adriaküste angetroffen hatte.

      Sturmbannführer Hollitsch starrte gelangweilt durchs weit geöffnete Fenster seines Dienstzimmers. Über ein kalkweiß verputztes Minarett mit altersgrauer, schindelgedeckter Spitze hinweg ging sein Blick zu den schartigen, vegetationslosen Felsbergen, die das weite Tal von Costenica im Südwesten begrenzten.

      Verdrossen strich Hollitsch sich über sein weiches, blondes Haar. In diesem verschlafenen Nest ließ man ihn versauern, während andere männliche Taten vollbrachten und Ruhm und Orden ernteten! Ihn dagegen hatte man gewissermaßen auf dem Verwaltungsweg zum Sturmbannführer befördert. Seine graue Feldbluse mit den Majorsschulterstücken und dem Hoheitsadler am linken Ärmel war auf der linken Brustseite leer wie die eines frisch eingezogenen Rekruten.

      Wie so oft dachte Hollitsch wieder an jenen Januarabend bei Livno, als er dem Gebirgsjägerhauptmann und Ritterkreuzträger Aschauer die zehn Lastkraftwagen seiner Division übergab. Damals war er stellvertretender Nachschubführer der SS-Division »Prinz Eugen« gewesen. Hauptmann Aschauer, im bunt karierten Skihemd, an dessen Kragen herausfordernd das Ritterkreuz baumelte, hatte ihn zum Sliwowitz eingeladen. Sie hatten etliche Gläser geleert, und auf einmal hatte der Hauptmann ihn gefragt, ob er seinen Majorsrang in der Lotterie gewonnen habe. »Wieso denn das?«, hatte er harmlos erwidert. Darauf hatte der Hauptmann in seinem unverfälschen Bayerisch erklärt, er habe sich’s überlegt, mit einem Druckbolzen, der sich Sturmbannführer nenne und nicht einmal den windigsten Orden aufzuweisen habe, wolle er nicht weitertrinken. Geknickt war er zur Division zurückgefahren, und noch Tage danach hatte er mit sich gerungen, ob er den Hauptmann zur Meldung bringen solle. Doch schließlich hatte er es unterlassen, weil zu befürchten war, dass er sich obendrein noch den Spott seiner SS-Kameraden zugezogen hätte.

      Gähnend stand Hollitsch auf, um das Fenster zu schließen. Die Hitze war unerträglich, lähmte das Denken und trieb einem selbst beim Nichtstun den Schweiß aus allen Poren. Der leise Windhauch, der vorhin wenigstens eine Illusion von Kühle hervorgerufen hatte, war eingeschlafen.

      Draußen, auf dem grell von der Mittagssonne überfluteten Gehsteig schlich auf spitzen Pantoffeln eine verschleierte Muslimin vorbei. In ihrer schwarzen Umhüllung wirkte sie wie ein riesiger flügellahmer Rabe. Ihre dunklen Augen, das einzige, was von ihrem Gesicht zu sehen war, senkten sich scheu, als sie den blonden, feldgrau uniformierten Mann am Fenster erblickte.

      Hollitsch kehrte zum Schreibtisch zurück, setzte sich auf den mit Schafleder bezogenen Stuhl und nahm aus einer Hunderterpackung mit der Aufschrift »Drina« eine Zigarette.

      Bei der »Prinz Eugen«, sagte er sich, war es trotz allem ein besseres Leben gewesen. Der Dienst – jedenfalls für ihn – nicht übermäßig anstrengend, die Verantwortung gering. Hier dagegen, beim Korpsstab, hatte er seine fest umrissene Aufgabe, die ihm ungeachtet des mit »gut« bestandenen Ic-Kurses und der achtwöchigen Praxis immer noch nebelhaft erschien.

      Sein Blick glitt über die Karte, die an der Wand neben dem Schreibtisch befestigt war. Sie umfasste das südwestliche Bosnien, einen Teil der Herzegowina und einen Streifen der dalmatinischen Küste. Der Bereich des LXXII. SS-Korps war mit Kohlestift umgrenzt. Mehrere Abschnitte des dünn besiedelten Berglandes von unterschiedlicher Größe waren rot umrändert und mit dem Vermerk »Bandengebiet« bezeichnet.

      Mit seinem Taschentuch wischte sich Sturmbannführer Hollitsch den Schweiß von der Stirn. In dem Kurs, den Generalstabsoffiziere des Heeres leiteten, hatte man ihm beigebracht, ein Teil seiner künftigen Aufgabe als Ic bestehe darin, unter der feindlichen Bevölkerung zuverlässige Elemente zu ermitteln und diese als Agenten und V-Leute anzusetzen, um mit ihrer Hilfe ein klares Bild der »Feindlage« zu erlangen. Das Rezept war einfach. Fraglich dagegen war es, ob die Spitzel, die er für Geld und Naturalien angeworben hatte, ihn nicht zum Narren hielten. Ihre Angaben und die ungenauen Meldungen der weit verstreuten Sicherungstruppen bildeten die Grundlage seiner Einzeichnungen. Allerdings waren die bisherigen militärischen Operationen von so bescheidenem Umfang gewesen, dass es nicht ins Gewicht fiel, ob seine Eintragungen im Einzelnen zutrafen.

      Dennoch wünschte Hollitsch, er wäre niemals ins Generalkommando des LXXII. SS-Armee-Korps geraten, dessen Aufstellung im März von der Reichsführung SS, der Wehrmachtsführung oder von beiden gemeinsam beschlossen worden war. Unverständlich war ihm, dass man ausgerechnet ihn in den Generalstabskurs geschickt hatte. Vielleicht hatte man angenommen, er als Volksdeutscher, beheimatet in Bosnisch-Brod, besitze mehr Einfühlungsvermögen als ein landesunkundiger Reichsdeutscher. Einen Gefallen jedenfalls hatte man ihm mit der Ernennung zum Ic nicht erwiesen. Die Versetzung in das Muselmanenkaff im Gebirge kam einer Verbannung gleich. Es gab keine Dienstreisen mehr nach Wien und Paris zur Beschaffung von Marketenderwaren.

      Hollitsch zündete sich nochmals eine Zigarette an. Plötzlich läutete das Telefon. Eine undeutlich vernehmbare Stimme sprach am anderen Ende der Leitung. Hollitsch holte mit der freien Hand das auf Pappe aufgezogene Decknamenverzeichnis heran.

      »Rheintochter« war eine Einheit, die irgendwo am Fuße der Velez-Planina lag. Der Sprecher war ein Oberleutnant. Sein Name klang wie Hase oder Haser. Er meldete ziemlich aufgeregt, er habe auf Grund fernmündlichen Ersuchens eines nahen Feldflugplatzes das Erforderliche zur Bergung eines Jagdfliegers unternommen, der aus seiner über der Küste in Brand geschossenen Maschine in seiner Gegend mit dem Fallschirm abgesprungen sei.

      »Sehr gut«, warf Hollitsch ein. »Aber was haben wir damit zu tun?«

      »Es handelt sich darum, Herr Sturmbannführer«, erklärte der Oberleutnant, »dass wir beim Anstieg mehrfach Feindberührung hatten. MG- und zweimal Granatwerfer-Beschuss. Den Luftwaffenhauptmann Welz haben wir gefunden. Der Fallschirm war zerschnitten und der Flieger wie Christus ans Kreuz an die Wand einer verfallenen Hütte angenagelt. Die Bergung misslang, Herr Sturmbannführer. Wir wurden von überlegenen Feindkräften