sie noch einmal voll Schauder vor ihrem eigenen Tun zurück. Doch dann warf sie trotzdem den Kopf zurück.
»Ich bin seine Frau«, murmelte sie mit plötzlicher Entschiedenheit, »ich habe ein Recht, alles zu wissen. Eheleute haben keine Geheimnisse voreinander!«
Die Schublade war verschlossen, doch Ulrike fand den Schlüssel in der Bleistiftschale. Sie zögerte jetzt nicht mehr, als sie den Schlüssel herumdrehte und die Schublade aufzog.
Obenauf lagen die Wirtschaftsbücher, die sie nicht interessierten, darunter mehrere Listen mit Aufstellungen landwirtshaftlicher Güter, zusammengeheftet mit etlichen Zeitungsartikeln, die das Thema Landwirtschaft behandelten.
Daneben lag eine Mappe, die Ulrike nicht kannte.
Das sind die Briefe! dachte sie und schlug die Mappe auf.
Zahllose Rechnungen fielen ihr entgegen. Rechnungen über Wirtschaftsgüter und darunter, säuberlich zusammengeheftet, Krankenhaus- und Arztrechnungen.
Ulrike blätterte Rechnung für Rechnung durch, und sie erschrak über die Höhe der Summen, die ihre Behandlung verschlungen hatte.
Er hat mir niemals etwas davon gesagt! dachte sie bestürzt, und plötzlich glaubte sie zu wissen, weshalb Rainharts Miene oft verschlossen und düster war und warum er in letzter Zeit stets eine unsichtbare Last mit sich herumzuschleppen schien.
Beschämt sank sie in den Schreibtischsessel. »Ich habe nie danach gefragt«, murmelte sie betroffen, als sie die zahlreichen Mahnungen auf längst fällige Zahlungen entdeckte.
Entsetzt wühlte sie weiter in den Papieren. Wie schlimm ist es eigentlich? überlegte sie fieberhaft. Haben wir etwa gar schon Schulden?
Alles fiel ihr in diesem Moment ein, worauf sie bisher nicht geachtet hatte.
Rainharts endlose Telefongespräche, die er mit städtischen Stellen führte, seine Besuche in der Stadt, die er nur selten einleuchtend begründet hatte, die Briefe, die er spätabends noch schrieb, wenn sie längst im Bett lag, und der Verkauf eines Landstückes, das Rainhart immer besonders am Herzen gelegen hatte… Ulrike ließ die Papiere sinken.
Ich dachte, er trifft sich mit Kathinka, sagte sie sich im stillen, statt dessen ist er bemüht, die schlechte Finanzlage des Gutes aufzubessern!
Jeder Augenblick, in dem sie ihm voll Argwohn oder mit kühler Zurückhaltung begegnet war, reute sie nun.
Sie legte die Rechnungsmappe in die Schublade zurück. Eben wollte sie den Kasten schließen, als ihr Blick auf ein großes Kuvert fiel, das die Aufschrift »Krankengeschichte« trug.
Mit zitternden Händen griff Ulrike danach. Sie hatte nicht gewußt, daß es so viele Unterlagen über ihre Krankheit gab, um damit ein dickes Kuvert zu füllen.
Eine unerklärliche Ahnung erfüllte sie, als sie das zugeklebte Kuvert in der Hand wog.
Dann riß sie es auf.
Zunächst las sie die ersten Berichte mit sachlichem Interesse, besah sich die Röntgenbilder und die Protokolle der verschiedenen Testuntersuchungen.
Bis sie auf das Wort stieß, das sie wie mit einem jähen Schlag betäubte: Lymphdrüsenkrebs!
Sie wußte nicht, wie lange sie regungslos auf das Blatt gestarrt hatte, ehe sie mit fieberhafter Erregung weiterlas, bis sie alles wußte, was man ihr jahrelang barmherzig vorenthalten hatte.
*
Der Rückfall in Ulrikes Gesundheitszustand kam so plötzlich, daß niemand sich die Verschlechterung erklären konnte.
Rainhart war außer sich und umsorgte seine Frau mit aller Liebe und Zärtlichkeit, ohne ihr seinen tiefen Kummer verhehlen zu können.
Ulrike wußte, warum sie so überraschend zusammengebrochen war. Sie hatte zwei oder drei Tage lang versucht, allein mit dieser entsetzlichen Gewißheit, zum Tode verurteilt zu sein, fertig zu werden. Dann hatten ihre Nerven nachgegeben, und sie hatte sich mit einem heftigen Fieberanfall ins Bett legen müssen.
Rainhart fuhr zu Dr. Langeloh, der sofort nach Ulrike sah und ihr die üblichen Medikamente verschrieb.
Noch am gleichen Abend rief er Professor Deval in Paris an und erzählte ihm die schlimme Wendung der Dinge. »Können Sie nicht früher nach Deutschland kommen, Herr Professor?« fragte Rainhart aufgeregt. »Ich kann meine Frau in diesem Zustand nicht nach Paris bringen!«
»Ich werde mir alle Mühe geben, meine Termine vorzuverlegen«, antwortete Deval zögernd.
Vierzehn Tage später war er da. Rainhart holte ihn vom Flugplatz mit dem Auto ab und brachte ihn aufs Gut.
Schweigend hörte sich der Professor Rainharts Bericht an, und als sie auf dem Gut ankamen, wollte er Ulrike sofort sehen.
Er blieb lange in ihrem Krankenzimmer.
Als der Professor endlich die Treppe herunterkam, riß Rainhart die Tür zu seinem Arbeitszimmer auf, wo er voll Unruhe gewartet hatte, und ging dem Professor entgegen.
»Nun, was sagen Sie, Herr Professor?« fragte er atemlos.
Deval antwortete nicht sofort.
Erst als er Rainhart in einem der tiefen Sessel gegenübersaß, sagte er zögernd: »Was ich Ihnen jetzt vorschlage, wird Sie überraschen, Herr Arundsen. Es ist auch eine vollkommen ungewöhnliche Therapie. Aber meiner Meinung nach das einzige, was Ihrer Frau helfen kann.«
Rainhart beugte sich erregt vor. »Was – was ist es, Herr Professor? Ich will keine Kosten scheuen, wenn es ein neues Verfahren gibt, das die Krankheit meiner Frau bekämpfen kann!«
»Ihre Frau sollte ein zweites Kind bekommen!«
Rainhart starrte den Professor fassungslos an. »Ausgeschlossen!« rief er dann entschieden aus. »Ich habe meiner Frau einmal diese Strapazen zugemutet, aber ein zweites Mal würde ich dazu niemals mein Einverständnis geben!«
»Und wenn es Ihre Frau retten könnte?«
»Haben Sie dafür einen Beweis?« Rainharts Augen brannten.
Deval hob unschlüssig die Hände. »Beweise gibt es dafür keine, aber eine Reihe von Vermutungen. Nach gründlichem Studium des Krankheitsverlaufes konnte ich eine deutliche Besserung nach der ersten Schwangerschaft bei Ihrer Frau feststellen. Gewisse Krankheitserscheinungen sind sogar völlig zurückgegangen. Durch einen unerwarteten seelischen Schock jedoch hat sich später der Zustand Ihrer Frau wieder verschlimmert.«
»Und nun soll meine Frau sich einem so riskanten Experiment unterziehen, das eine Schwangerschaft für sie bedeuten würde? Nein, ich will es nicht! Ich will es nicht, ehe Sie mir keine handfesten Beweise für die Richtigkeit dieser Therapie geben können.«
»Ich möchte Ihre Frau noch einmal genau beobachten und testen«, sagte Deval nach einer kleinen Pause. »Ich schlage vor, wir bringen sie in die Klinik meines Kollegen Maurer. Wenn Sie einverstanden sind, würde ich sofort mit Maurer telefonieren und alles Weitere veranlassen.«
Arundsen stand zögernd auf. »Dort drüben steht das Telefon, Herr Professor. Das Telefonbuch liegt daneben.«
*
»Ich will nicht mehr«, sagte Ulrike mit fieberheißen Augen. »Ich will nicht wieder in eine Klinik und mich von zahllosen Ärzten untersuchen lassen!« Ihre Stimme klang leidenschaftlich erregt, so wie sie Rainhart noch nie gehört hatte. »Es hat ja doch alles keinen Sinn! Laßt mich doch endlich in Ruhe!«
»Es ist zu deinem Besten, Ully«, sagte er sanft und versuchte, sie durch zärtliches Streicheln zu beruhigen.
»Wie oft hast du das schon gesagt – und es hat alles nichts genützt!« Mit einem wilden Flackern in den Augen sah sie ihn an. »Meinst du, ich wüßte nicht Bescheid? Ich muß sterben – es gibt keine Rettung für mich! Jede Behandlung ist nur ein Aufschieben der letzten, unausweichlichen Konsequenz!« Die Erregung riß sie mit sich fort, und sie sprach die Dinge aus, die sie still für sich bewahren wollte.
Rainhart