stellte Urte fest, »und Sie sind nicht der Großvater. Also, wem gehört das Kind?«
Veronika richtete sich auf. Sie schlang die Ärmchen um Urtes Hals und drückte sich fest an die junge Frau. »Bitte, bitte, ich möchte bei dir bleiben! Bitte, schick mich nicht fort!«
Urte konnte sich nur mit Mühe aus der Umklammerung befreien. Sie begriff, daß hier ein Kind in Not war.
»Ja, sag mal, Ika, wo kommst du denn überhaupt her? Liebe Güte, deine Mutter muß ja schreckliche Ängste ausstehen!«
»Ich habe keine Mutter!« sagte Veronika nachdrücklich.
»Das erklärt vieles«, meinte der Professor.
»Irgendwo mußt du doch gelebt haben, Ika! Wo war das?« forschte Urte.
Das kleine Mädchen kniff die Lippen zusammen.
»Weißt du es nicht, Ika?«
Veronika schüttelte den Kopf.
»Wie heißt du denn?«
»Ika.«
»Ja, das wissen wir. Aber wie heißt du weiter?«
Angstvoll starrte das Kind sie an. Veronika wußte genau, was sie erwartete: Wenn sie mehr sagte, mußte sie zurück ins Heim. Nur das nicht! Um Himmels willen, nur das nicht! Tränen schossen in die großen glänzenden Vergißmeinnichtaugen.
Urte drückte den Kopf des Kindes zärtlich an sich. »Du brauchst doch nicht zu weinen! Wir wollen doch nur herausbekommen, ob sich jemand um dich ängstigt.«
Heftig schüttelte Veronika den Kopf.
»Mich will keiner!« stieß sie unter Schluchzen hervor.
Urte wiegte sie beruhigend hin und her. »Aber das gibt es doch nicht! So ein nettes Kind! Weißt du denn wirklich nicht, wo du herkommst?«
Veronika schluchzte noch heftiger.
»Vielleicht ist sie – ausgesetzt worden!« mutmaßte der Professor. »Bist du aus Rothenburg oder nicht, Goldtöchterchen?« forschte er.
Aus dem weinenden Kind war nichts mehr herauszukriegen.
»Wie alt bis du denn?«
Keine Antwort.
»Drei Jahre? Oder vier?«
Veronika wußte genau, daß sie fünf Jahre alt war. Aber sie wußte auch aus Erfahrung, daß man mit kleineren Kindern eher Nachsicht übte. Also schwieg sie.
»Was machen wir denn nun mit dir?« Ratlos blickte Urte zwischen dem Kind und dem Gelehrten hin und her.
»Auf jeden Fall müssen wir bei der Polizei nachfragen, ob ein Kind vermißt wird«, riet der Professor.
»Das ist richtig. – Ich nehme das Kind erst einmal mit…«
»Nicht zur Polizei!« schrie Veronika und klammerte sich an Urte, als wolle man ihr ans Leben.
»Aber nein, Kleines, du bist doch noch krank und kommst mit zu mir.«
»Nachträglich kommt mir alles recht merkwürdig vor!« wunderte sich der alte Gelehrte. »Ich hätte merken müssen, daß mit dem Goldtöchterchen irgend etwas nicht stimmt. Ja, und dann habe ich natürlich geglaubt, daß Sie die Mutter sind, Fräulein…«
»Söhrens. – Ich möchte fast sagen: Leider bin ich es nicht. Denn ich habe die verlassene Kleine ins Herz geschlossen. Aber ich bin ja nicht verheiratet.«
»Nun, das dürfte nur noch eine Frage der Zeit sein.« Der alte Herr musterte das bildhübsche Mädchen lächelnd. »So etwas wie Sie läuft doch nicht lange frei herum.«
Urte wurde verlegen und erwiderte schroffer als beabsichtigt: »Ich bin Männern gegenüber sehr mißtrauisch! Ich bleibe lieber allein!«
»Das Mißtrauen ist manchmal begründet. Aber daß Sie lieber allein bleiben – das glaube ich Ihnen nicht. Sicher verbirgt sich hinter Ihren Worten eine schwere Enttäuschung.«
Veronika bemerkte, daß Urte plötzlich sehr traurig aussah.
»Sei nicht traurig! Du hast ja
jetzt mich!« Das kleine Mädchen schmiegte seine heiße Wange an das Gesicht der jungen Frau. Urte streichelte das Kind. Eine heiße Welle der Zärtlichkeit schoß ihr zum Herzen. »Du kommst jetzt mit zu mir – und alles Weitere wird sich finden.«
*
Am Nachmittag, als Veronika schlief, ging Urte ins Toppler-Schlößchen, um dem alten Professor zu berichten. Urte hörte seine Stimme aus der Höhe:
»Kommen Sie herauf, schönes Kind. Ein alter Mann spart sich gern die Treppe.«
Urte eilte hinauf und blickte sich erstaunt um, als sie in die Studierstube trat. Jeder nur mögliche Platz war mit Büchern, Papieren und allerlei Forschungsmaterial belegt.
»Bitte, nehmen Sie Platz«, forderte sie Professor Buss auf.
»Ja, aber wo?« Urte lachte leise.
Mit einer energischen Handbewegung wischte der alte Herr einen Papierstapel von einem Stuhl. »Bitte!«
»Hier sieht es ja aus wie auf einem Gemälde von Spitzweg«, stellte Urte sachlich fest und strich mechanisch eine goldblonde Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Das nehme ich als Kompliment«, lächelte der Gelehrte.
»Das soll es auch sein! Ich finde die Atmosphäre hier einfach märchenhaft!«
»Haben Sie etwas über unser Goldtöchterchen erfahren können? Wird es gesucht?«
Urte schüttelte den Kopf. »Die Polizeibeamten wußten nichts, aber sie wollen Nachforschungen anstellen. – Die Kleine tut mir so leid. Sie ist uns wirklich wie ein herrenloses Hündchen zugelaufen. Wir werden sie natürlich betreuen. Ich bleibe bestimmt noch zwei Wochen hier.«
»Nun, dann ist ja erst einmal alles in bester Ordnung«, bemerkte der Gelehrte befriedigt.
»Darf ich fragen, womit Sie sich so ausgiebig beschäftigen?« fragte Urte interessiert.
»Ich habe mir in den Kopf gesetzt zu beweisen, daß die Schöpfung auch nach dem Prinzip der Schönheit und nicht nur nach dem Prinzip der Nützlichkeit erdacht worden ist.«
»Das ist ein interessanter Gesichtspunkt!« Urte wurde ganz lebhaft.
Aber es blieb dem Gelehrten keine Zeit mehr, seine These näher zu erläutern, denn draußen hupte ein Auto wie eine Feuerwehrsirene.
Beide fuhren äußerst erschrocken herum, aber der Professor fing sich sofort. Lächelnd und kopfschüttelnd sagte er: »Der Lauser erschreckt mich jedesmal wieder. Ich sollte seine Ankunft inzwischen eigentlich gelassener zur Kenntnis nehmen.«
Sie hörten, wie unten die Eingangstür aufging und jemand die Treppe heraufstürmte. Vergeblich hielt Urte nach dem »Lauser« Ausschau, der nun eigentlich auftauchen mußte. Doch der Besucher, ein junger Mann, war offensichtlich allein gekommen. Er hatte blitzende Augen und entblößte ein kräftiges weißes Gebiß, als er Urte entdeckte. Überraschung spiegelte sich auf seinem interessant geschnittenen Gesicht wider.
»Oh, pardon, dann war meine Fanfare diesmal überflüssig. Auf diese Weise gelingt es mir sonst immer, meinen Vater in die Wirklichkeit zurückzurufen. Er ist gar nicht ansprechbar, wenn man still, leise und höflich ins Zimmer tritt.« Der junge Mann verneigte sich vor Urte.
»Das also ist mein Sohn Hans-Günther«, erklärte der Professor. »Respektlos, selbstsicher und ein Mensch, der ernsthafte Arbeit nicht zu würdigen weiß. – Hans-Günther, dies ist Fräulein…, äh…«
»Söhrens!« half Urte dem zerstreuten Gelehrten aus der Verlegenheit. Und hastig fügte sie hinzu: »Dann möchte ich mich gleich verabschieden.«
»Aber ich bitte Sie! Wenn mein Vater mich auch schlecht macht – hübsche junge Damen fresse ich nicht!