zu finden, sie zu einem weiteren Grab.
Seit Jahren predigte der Pastor vom Ende der Welt, und jetzt war es gekommen. Makepeace wusste es, sie fühlte es. Als die Kutsche sie aus Poplar herausbrachte, schoss ihr der Gedanke durch den Nebel in ihrem Kopf, dass doch eigentlich die Erde erbeben und die Sterne wie reife Feigen vom Himmel fallen müssten. Und sie sollte Engel sehen oder die glänzende Frau aus Nanny Susans Visionen. Stattdessen sah sie Wäsche auf der Leine, ratternde Karren und Treppen, die gefegt wurden, als ob nichts geschehen wäre. Aus irgendeinem Grund war das schlimmer als alles andere.
Während die Kutsche nach Nordwesten rumpelte, versuchte Makepeace zu begreifen, was man ihr gesagt hatte.
Ihr Vater war Sir Peter Fellmotte gewesen, und er war tot. Er stammte aus einer uralten Familie, die sich damit einverstanden erklärt hatte, sie aufzunehmen. Es klang wie das bittersüße Ende einer Ballade, aber Makepeace war wie betäubt. Warum hatte Mutter nie über ihn gesprochen?
Sie erinnerte sich an die Warnung ihrer Mutter. Du hast ja keine Ahnung, wovor ich dich bewahrt habe. Wenn ich in Grizehayes geblieben wäre …
Es war ein Fehler, an Mutter zu denken. In Makepeaces Kopf trat die Erinnerung an den Albtraum-Geist mit dem Gesicht ihrer Mutter. Die verzerrte Stimme und das graue, in Fetzen hängende Antlitz … Makepeaces Geist verschloss sich wieder an jenem dunklen Ort.
Als sie von dort zurückkehrte, war ihr übel und sie fühlte sich erschöpft. Sie saß immer noch in der Kutsche, aber eng in eine Decke aus Schaffell gewickelt, sodass sie die Arme nicht bewegen konnte. Um die Decke war ein Seil gebunden.
«Bist du jetzt wieder ruhiger?», fragte Mr. Crowe sachlich, als sie ihn verwirrt anblinzelte.
Zögernd nickte Makepeace. Ruhiger als wann? Auf ihrem Kinn prangte ein blauer Fleck. Und auch ihr Erinnerungsvermögen war irgendwie angeschlagen; da war ein undeutliches Gefühl, dass sie etwas getan hatte, was sie nicht hätte tun sollen. Irgendwie war sie in Schwierigkeiten geraten.
«Ich kann nicht zulassen, dass du aus der Kutsche springst», sagte Mr. Crowe.
Die Decke war dick und warm, roch aber intensiv nach Schaf. Sie klammerte sich an diesen Geruch. Es war etwas, das sie begriff. Mr. Crowe richtete kein weiteres Wort an sie, und dafür war sie ihm dankbar.
Während der langen, feuchten Kutschfahrt veränderte sich die Landschaft allmählich. Am ersten Tag war sie Makepeace noch vertraut, mit den nebelverhangenen Wiesen und den fruchtbaren, blassgrünen Maisfeldern. Am zweiten Tag wurden die sanften Hügel allmählich höher. Und am dritten waren die Felder in eine Moorlandschaft übergegangen, wo schlanke, schwarzgesichtige Schafe grasten.
Irgendwann wachte sie auf und merkte, dass die Kutsche in strömendem Regen eine ansteigende Straße entlangfuhr. Rechts und links der Straße lagen Felder und Weiden, und am Horizont stand eine düstere Hügelkette Wache. Die Straße endete hinter einem kleinen Wäldchen aus dunklen, knorrigen Eiben vor der grauen, klobigen Fassade eines riesigen Hauses. Zwei Türme erhoben sich über dem Gebäude wie missgestaltete Hörner.
Das war Grizehayes. Obwohl Makepeace das Anwesen noch nie gesehen hatte, war es ihr vertraut, als ob tief in ihrem Inneren eine Glocke anschlagen würde.
Als sie endlich ankamen, war Makepeace durchgefroren, erschöpft und hungrig. Sie wurde losgebunden und ausgewickelt und dann einer rothaarigen Magd mit müdem Gesicht übergeben.
«Seine Lordschaft wird sie sehen wollen», sagte Crowe und ließ Makepeace in der Obhut der Frau zurück.
Die Magd zog sie um, säuberte ihr Gesicht und bürstete ihre Haare. Sie war weder unfreundlich noch freundlich. Makepeace wusste, dass diese Aufmerksamkeit nicht aus Fürsorge geschah, sondern dass sie jemandem präsentiert werden sollte. Die Frau schüttelte den Kopf über Makepeaces gesplitterte und abgebrochene Fingernägel. Makepeace hatte keine Ahnung, warum sie so waren.
Als sie einigermaßen vorzeigbar war, brachte die Frau sie durch einen dunklen Korridor, winkte sie stumm durch eine Eichentür, die sie dann hinter ihr zuzog. Makepeace stand in einem weitläufigen, warmen Zimmer mit dem größten Kamin, den sie je gesehen hatte. In dem Kamin loderte ein gigantisches Feuer. An den Wänden hingen Gobelins mit Jagdszenen – Hirsche, die das Weiße in den Augen zeigten, während ihnen gesticktes Blut über die Flanken lief. Ein sehr alter Mann saß, von Kissen gestützt, in einem Himmelbett.
Sie starrte ihn furchtsam und ehrfürchtig an und versuchte, sich daran zu erinnern, was man ihr erzählt hatte. Das musste Obadiah Fellmotte sein, das Oberhaupt der Familie, Lord Fellmotte höchstpersönlich.
Er war in ein ernstes Gespräch mit dem weißhaarigen Mr. Crowe vertieft. Keiner der beiden schien ihr Eintreten bemerkt zu haben. Unsicher und schüchtern blieb Makepeace an der Tür stehen. Trotzdem verstand sie, was in leisem Ton gesprochen wurde.
«So so, jene, die uns beschuldigt haben, werden das nicht wieder tun?» Obadiahs Stimme war ein leise raspelndes Knarren.
«Einer hat sich umgebracht, nachdem seine Schiffe gesunken waren und er sein Vermögen verloren hatte», sagte Mr. Crowe ruhig. «Ein Zweiter wurde ins Exil geschickt, als man seine Briefe an den spanischen König abfing. Dem Dritten wurden seine Affären zum Verhängnis. Er wurde vom Ehemann seiner Geliebten beim Duell erschossen.»
«Gut», sagte Obadiah. «Sehr gut.» Er verengte die Augen. «Erzählt man sich immer noch Geschichten über uns?»
«Es ist schwer, Gerüchte zu töten, Mylord», sagte Crowe langsam. «Besonders solche, die mit Hexerei zu tun haben.»
Hexerei? Makepeace empfand einen Anflug von abergläubischem Schrecken. Hatte sie richtig verstanden? Der Pastor in Poplar hatte manchmal von Hexen und Hexern erzählt – missgestalteten, korrupten Männern und Frauen, die sich insgeheim mit dem Teufel verbündeten, um unheilige Macht zu erlangen. Sie konnten eine unbescholtene Seele mit dem bösen Blick belegen. Sie konnten dafür sorgen, dass einem die Hand verkümmerte, dass die Ernte misslang, dass das Baby krank wurde und starb. Schaden mit Hilfe von Hexerei anzustellen war natürlich verboten, und wenn man Hexen erwischte, wurden sie verhaftet und verurteilt, manchmal sogar gehängt.
«Wenn wir nicht verhindern können, dass dem König diese Gerüchte zu Ohren kommen», sagte der alte Edelmann nachdenklich, «dann müssen wir verhindern, dass er auf sie reagiert. Wir müssen uns nützlich machen, unentbehrlich für ihn. Und wir müssen etwas finden, womit wir ihn in der Hand haben, damit er nicht wagt, uns zu denunzieren. Er will sich doch unbedingt Geld von uns leihen, nicht wahr? Ich bin sicher, dass wir zu einer Übereinkunft kommen.»
Makepeace stand immer noch an der Tür. Ihre Zunge war wie festgefroren, während die Hitze des Feuers auf ihrem Gesicht prickelte. Sie verstand nicht alles, was sie gehört hatte, aber sie war sicher, dass diese Worte und Gedanken niemals für ihre Ohren bestimmt gewesen waren.
Dann schaute der alte Lord zur Tür und bemerkte sie. Er runzelte leicht die Stirn.
«Crowe, was macht dieses Kind in meinem Zimmer?»
«Das ist Margaret Lightfoots Tochter», sagte Crowe leise.
«Ach, der Bastard.» Obadiahs Stirn glättete sich wieder.
«Dann wollen wir mal sehen.» Er winkte Makepeace zu sich.
Makepeaces leise Hoffnung auf ein freundliches Willkommen sackte in sich zusammen. Langsam trat sie näher und blieb neben dem Bett stehen. Obadiahs Nachthemd und die Mütze, die ihm bis in die Stirn reichte, waren mit kostbarer Spitze besetzt, und Makepeace kalkulierte unwillkürlich, wie viele Wochen ihre Mutter dafür gebraucht hätte. Aber dann merkte sie, dass sie starrte, und senkte schnell den Blick. Die Reichen und Mächtigen anzusehen war genauso gefährlich, wie wenn man in die Sonne blickte.
Stattdessen beobachtete sie ihn zwischen ihren Wimpern hindurch. Sie fixierte seine Hände, die mit Ringen beladen waren. Er machte ihr Angst. Sie sah das blaue Blut in seinen knotigen Adern.
«Ja, eindeutig, das ist eine von Peter», murmelte Obadiah. «Schaut euch dieses gespaltene Kinn an. Und die blassen Augen! Aber Ihr sagt, sie sei verrückt?»