Frances Hardinge

Schattengeister


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schneeweißen Haarschopf.

      Makepeace konnte nicht aufgeben, auch nicht, als sie über die große Brücke von London nach Southwark lief. Die Gebäude entlang der Straße wurden schäbiger und die Gerüche übler. Gelächter wehte aus den Hafenkneipen, und vom Fluss drangen Flüche und das Knarren der Riemen. Es war dunkler geworden. Die Sonne sank und verschwand aus dem Blickfeld, und der Himmel hatte sich zu einem schmutzigen Bleigrau eingetrübt. Dennoch ging es auf den Straßen ungewöhnlich lebhaft zu. Ständig traten ihr Leute in den Weg und versperrten den Blick auf den weißhaarigen Mann.

      Erst als die Straße sie auf einen weitläufigen, offenen Platz ausspuckte, blieb sie plötzlich verzagt stehen. Das Pflaster unter ihren Füßen war Gras gewichen, und sie erkannte, dass sie am Rand von St. George’s Fields stand. Ringsum brodelte eine schattenhafte, ruhelose, aufgewühlte Menge, deren Köpfe wie Scherenschnitte vor dem dunkler werdenden Himmel standen. Sie sah nicht, wie weit sich diese Menge erstreckte, aber es schienen Hunderte Stimmen zu sein, allesamt Männerstimmen. Von dem Weißhaarigen war keine Spur mehr zu sehen.

      Makepeace blickte sich keuchend um. Neugierige, harte Blicke zuckten zu ihr hin. Sie trug Kleidung aus Wolle und Leinen, einfache und billige Stoffe, aber ihr Schultertuch und ihre Haube waren sauber und adrett, und an diesem Ort genügte das, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Außerdem war sie das einzige weibliche Wesen weit und breit und noch dazu keine dreizehn Jahre alt.

      «Hallo Herzchen!», rief eine der dunklen Gestalten. «Willst du unsere Courage anstacheln?»

      «Nee», sagte eine andere, «du bist bestimmt hier, um mit uns zu marschieren. Nicht wahr, Missy, du kannst Schemel auf diese Mistkerle werfen, wie die schottischen Damen! Zeig uns mal deinen Wurfarm!» Ein halbes Dutzend Männer lachten brüllend auf, und Makepeace spürte eine Grausamkeit in der scheinbar harmlosen Neckerei.

      «Bist du nicht Margaret Lightfoots Mädchen?», fragte da eine jüngere Stimme. Als Makepeace in die Dunkelheit spähte, erkannte sie ein vertrautes Gesicht. Es war der vierzehnjährige Junge, der bei dem Weber nebenan in die Lehre ging. «Was machst du denn hier?»

      «Ich habe mich verlaufen», sagte Makepeace hastig. «Was ist hier los?»

      «Wir sind auf der Jagd.» In den Augen des Lehrlings stand ein wildes, grausames Leuchten. «Wir jagen den alten Fuchs, den Erzbischof Laud.» Makepeace hatte den Namen des königlichen Ratgebers schon hundertmal gehört, meistens von einem Fluch begleitet. «Wir gehen einfach hin und klopfen an, wie gute Nachbarn es zu tun pflegen.» Er schlug den Knüppel, den er bei sich trug, klatschend auf seine Handfläche. Seine ganze Haltung zeigte, dass er vor Erregung förmlich überkochte.

      Zu spät verstand Makepeace die Bedeutung der Plakate, die ihr aufgefallen waren. Sie riefen die Menschen zu einer großen, wütenden Versammlung auf dem St. George’s Field zusammen. Die Menge bestand hauptsächlich aus Lehrburschen, erkannte Makepeace, als sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Und alle von ihnen hatten behelfsmäßige Waffen dabei – Hämmer, Besenstiele, Schürhaken und einfache Vierkanthölzer –, die sie mit einer grimmigen Fröhlichkeit schwangen, in der wilde Entschlossenheit lag. Sie hatten sich vorgenommen, das Böse aus seinem Palast zu zerren und ihm die Krone vom Kopf zu schlagen. Aber in ihren strahlenden Augen sah Makepeace, dass es nicht nur bitterer Ernst war – es war auch ein Spiel, ein Blutsport, wie eine Bärenhatz.

      «Ich muss jetzt nach Hause.» Die Worte schmeckten bitter, noch während Makepeace sie aussprach. Sie hatte die Chance vertan, mehr über ihre Vergangenheit herauszufinden, aber was, wenn sie dabei auch ihr Zuhause verloren hatte? Ihre Mutter hatte ihr nicht geglaubt, als Makepeace sagte, sie würde davonlaufen, und jetzt hatte sie ihre Drohung wahr gemacht.

      Der Lehrling des Webers runzelte die Stirn und stellte sich auf die Zehenspitzen, um über die Köpfe der Versammelten hinwegsehen zu können. Makepeace tat es ihm nach, und sie erkannte, dass die Straße, durch die sie gekommen war, nun vor Menschen überquoll, die dicht gedrängt zu St. George’s Fields strömten.

      «Bleib in meiner Nähe», sagte der Lehrling besorgt, als die Menge vorwärtsdrängte und die beiden mitzureißen begann. «Bei mir bist du sicher.»

      Es war kaum möglich, an den zahlreichen größer gewachsenen Lehrburschen vorbei etwas zu sehen, aber Makepeace hörte, wie immer mehr Stimmen sich zu dem hitzigen Geschrei gesellten und über die groben Witze lachten, während sie mit der Flut weitergedrängt wurde. Die Armee der Lehrlinge schien jetzt ins Unermessliche gewachsen zu sein. Kein Wunder, dass sie so selbstbewusst und so entschlossen waren.

      «Makepeace! Wo bist du?»

      Der Ruf wurde fast völlig von dem Crescendo aus Schreien und Brüllen verschluckt, aber Makepeace hörte ihn trotzdem. Es war Mutters Stimme. Mutter war ihr gefolgt und steckte nun ein Stück weit hinter ihr in der Menge fest.

      «Ma!», schrie Makepeace, während die Menge sie weiter ihrem Ziel entgegenschob.

      «Da vorne ist Lambeth Palace!», schrie jemand vor ihr. «In den Fenstern ist Licht!» Makepeace konnte wieder den Fluss riechen und sah ein mächtiges Gebäude am Ufer, mit hohen, quadratischen Türmen, deren Zinnen wie eckige Zähne Stücke aus dem Abendhimmel bissen.

      Von der Spitze des Mobs ertönten Geräusche eines heftigen Streits, und die Menge wurde von einer fiebrigen, wallenden Spannung ergriffen.

      «Kehrt um!», brüllte jemand. «Geht nach Hause!»

      «Wer ist da vorne?», verlangten Dutzende Stimmen aus der Menge zu wissen, und von vorne erklangen ein Dutzend unterschiedliche Antworten. Einige behaupteten, es sei die Armee, andere, dass sich die Leibgarde des Königs dort postiert hätte, und wieder andere, dass es der Erzbischof persönlich sei.

      «Ach, haltet die Klappe!», schrie endlich einer der Lehrlinge. «Schafft uns William, den Fuchs, heraus, oder wir brechen die Tür auf und schlagen dem ganzen Haufen die Köpfe ein!»

      Daraufhin stimmten die anderen Lehrlinge ein ohrenbetäubendes Gebrüll an und schoben und stießen mit aller Macht vorwärts. Der Flecken Himmel über Makepeace schrumpfte zusammen, als sie von den Leibern ringsum fast zerquetscht wurde. Vor ihr gab es eine Art Kriegsgeschrei und dann war das Grunzen und Schnauben kämpfender Männer zu hören.

      «Brecht die Tür auf!», schrie jemand. «Nehmt die Stemmeisen!»

      «Zerschlagt die Lampen!», kam ein anderer Ruf.

      Als der erste Schuss fiel, dachte Makepeace, jemand hätte etwas Schweres auf das Pflaster geworfen. Dann kam ein zweiter Schuss und ein dritter. Die Menge wogte, einige wichen zurück, andere schoben vorwärts. Makepeace bekam ein Knie in den Magen und ein Knüppelende gegen das Auge.

      «Makepeace!» Da war wieder Mutters Stimme, schrill und verzweifelt und näher als zuvor.

      «Ma!» Die Menschen rings um Makepeace schlugen jetzt um sich, aber sie kämpfte sich durch in die Richtung, aus der Mutters Stimme gekommen war. «Ich bin hier!»

      Irgendwo vor ihr ertönte ein Schrei.

      Es war ein rauer, kurzer Ton, und am Anfang wusste Makepeace nicht, was es war. Sie hatte Mutter noch nie schreien gehört. Aber als sie sich mit den Ellbogen ihren Weg bahnte, sah sie eine Frau an einer Hauswand liegen. Die blinde, blindwütige Menge trampelte über sie hinweg.

      «Ma!»

      Mit Makepeaces Hilfe kam Mutter taumelnd auf die Füße. Ihr Gesicht war aschfahl, und trotz der Dunkelheit erkannte Makepeace tintige Spuren aus Blut, die ihr über die linke Gesichtshälfte liefen. Sie bewegte sich auch falsch, ein Augenlid hing herab, und ihr rechter Arm zuckte unkontrolliert.

      «Ich bringe dich nach Hause», flüsterte Makepeace mit trockenem Mund. «Es tut mir leid, Ma. Es tut mir leid …»

      Mit glasigem Blick starrte Mutter Makepeace an, als ob sie ihre Tochter nicht erkennen würde. Dann verkrampfte sich ihre Miene.

      «Nein!», schrie sie rau und schlug zu. Sie traf Makepeace im Gesicht, dann schob sie sie von sich. «Bleib weg von mir! Geh weg! Geh weg!»

      Makepeace verlor das