und verzweifelte Ausdruck lag. Ein Stiefelabsatz traf sie im Gesicht und ihr kamen die Tränen. Jemand anderes trat ihr auf die Wade.
«Macht euch bereit!», hörte sie jemanden schreien. «Da kommen sie!» Schüsse hallten durch die Nacht, als ob die Sterne explodieren würden.
Dann schoben sich starke Hände unter Makepeaces Achseln und sie wurde auf die Füße gestellt. Ein großer Lehrbursche warf sie wie einen Kartoffelsack über seine Schulter und trug sie aus der Schusslinie, während sie sich nach Kräften wehrte und nach Mutter rief. Am Eingang zu einer Gasse setzte er sie ab.
«Lauf nach Hause!», schrie er Makepeace mit hochrotem Gesicht an und stürzte sich dann wieder mit erhobenem Hammer in das Getümmel.
Sie fand nie heraus, wer er war und was mit ihm geschah.
Und sie sah Mutter nicht mehr lebend wieder.
Nachdem der Kampf vorbei war und alle verhaftet worden waren, derer man habhaft werden konnte, und nachdem die Aufrührer zum Rückzug gezwungen worden waren, fand man den Leichnam von Makepeaces Mutter. Niemand konnte sagen, was sie am Kopf getroffen und getötet hatte. Vielleicht ein wild geschwungener Schürhaken, vielleicht war es auch eine verirrte Kugel, die den Schädel zerschmettert hatte und weitergeflogen war.
Makepeace erfuhr es nie und es war ihr auch egal. Der Aufstand hatte den Tod ihrer Mutter verursacht, und sie war es gewesen, die sie dorthin geführt hatte. Es war alles Makepeaces Schuld.
Und die Leute in der Gemeinde, die Mutters Spitze und Klöppelarbeiten gekauft hatten, wenn sie welche brauchten, befanden, dass ihr kostbarer Friedhof nicht der Ort war, wo eine Frau, die ein uneheliches Kind geboren hatte, zur letzten Ruhe gebettet werden durfte. Der Pastor, der stets freundlich gewesen war, wenn sie ihm auf der Straße begegnet waren, stieg nun in die Kanzel und behauptete, Margaret Lightfood sei keine gerettete Seele gewesen.
Stattdessen wurde Mutter in ungeweihter Erde am Rand der Sümpfe begraben. Es war Land, das mit Brombeerranken überwuchert war und nur dem Wind und den Vögeln eine Heimstatt gab, so verschwiegen und geheimnisvoll wie Margaret Lightfood selbst.
KAPITEL 3
Du bringst mich noch ins Grab.
Mutters Worte gingen Makepeace nicht aus dem Kopf. Sie leisteten ihr in jedem wachen Moment Gesellschaft und zu jeder nächtlichen Stunde. Sie kamen aus dem Mund ihrer Mutter, doch jetzt mit einer ausdruckslosen und kalten Stimme.
Ich habe sie getötet, dachte Makepeace. Ich bin weggelaufen, und sie ist mir gefolgt, direkt in die Gefahr hinein. Es war meine Schuld, und sie hat mich zum Schluss deswegen gehasst.
Makepeace hatte geglaubt, dass man sie nun in demselben Bett wie ihre kleinen Kusinen schlafen lassen würde, aber sie musste immer noch mit der Matratze vorliebnehmen, die sie mit Mutter geteilt hatte. Vielleicht spürten die anderen, dass sie eine Mörderin war. Oder vielleicht wussten Tante und Onkel nicht, was sie nun mit ihr anfangen sollten, da die Klöppelarbeiten ihrer Mutter nicht mehr für ihren Unterhalt sorgten.
Sie war allein. Der kleine Zaun, der Makepeace und Mutter umgeben hatte, verlief nun nur noch um Makepeace und sperrte sie vom Rest der Welt aus.
Die Bewohner des Hauses beteten wie gewöhnlich, nur dass sie jetzt ein zusätzliches Gebet für Mutter sprachen. Makepeace erkannte, dass sie nicht länger so beten konnte, wie man es ihr beigebracht hatte. Sie konnte dem Herrn ihre Seele nicht mehr offenlegen. Sie versuchte es, aber ihr Inneres sah so wild und leer aus wie ein weißer Oktoberhimmel; nichts, was sie in Worte fassen konnte. Es war, als wäre ihre Seele verschwunden.
In der zweiten Nacht allein in ihrem Zimmer wollte Makepeace den Deckel von ihren Gefühlen anheben. Sie zwang sich, um Vergebung zu beten, für Mutters Seele und für ihre eigene. Der Versuch ließ sie erzittern, aber nicht vor Kälte. Sie hatte Angst, dass Gott ihr mit eisigem, unversöhnlichem Zorn lauschte und bis tief in den verfaulten Kern ihrer Seele blickte. Gleichzeitig überkam sie die Furcht, dass er überhaupt nicht zuhörte, dass er ihr nie zugehört hatte und nie zuhören würde.
Die Anstrengung laugte sie aus, und danach konnte sie einschlafen.
Tapp, tapp, tapp.
Makepeace schlug die Augen auf. Ihr war kalt, so ganz allein im Bett, ohne die Wölbung von Mutters Rücken neben sich. Der Verlust wog in der Schwärze der Nacht noch schwerer.
Tapp, tapp, tapp.
Das Geräusch kam vom Fenster; vielleicht hatten sich die Läden gelockert. Wenn das der Fall war, würden sie die ganze Nacht lang klappern und sie wach halten. Widerstrebend stand sie auf und tastete sich zum Fenster vor; sie fand sich auch ohne Licht in dem Zimmer zurecht. Sie strich über den Riegel und spürte, dass er fest verschlossen war. Und dann erzitterte etwas unter ihren Fingerspitzen, als von draußen wieder gegen den Fensterladen geklopft wurde.
Jenseits der hölzernen Latten hörte sie noch etwas anderes. Es war so leise und gedämpft, dass es kaum das Ohr kitzelte. Aber es klang wie eine menschliche Stimme. Und diese Stimme war entsetzlich vertraut. Makepeaces Nackenhaare stellten sich auf.
Da war es wieder, ein unterdrücktes Schluchzen, ganz dicht an den Fensterläden. Ein einzelnes Wort.
Makepeace.
In hundert Albträumen hatte Makepeace vergeblich darum gekämpft, die Läden in ihrem Geist geschlossen zu halten und die Schreckgespenster auszusperren. Ihre Hände zitterten bei dem Gedanken daran, doch noch immer lagen ihre Finger auf dem Riegel.
Die Toten sind wie Ertrinkende, hatte Mutter gesagt.
Makepeace stellte sich vor, wie ihre Mutter in der Nachtluft ertrank, wie sie langsam nach unten sank, mit weit ausgebreiteten Haaren. Sie stellte sich vor, wie hilflos, allein und verzweifelt sie nach Halt griff.
«Ich bin hier», flüsterte sie. «Ich bin es – Makepeace.» Sie drückte ihr Ohr an den Fensterladen, und sie glaubte, eine erstickte Antwort auf ihre Worte zu hören.
Lass mich ein.
Makepeace gefror das Blut in den Adern, aber sie ermahnte sich, keine Angst zu haben. Mutter würde nicht so sein wie die anderen toten Wesen. Das hier war anders. Was immer da draußen war, war immer noch Mutter. Makepeace konnte sie nicht im Stich lassen. Nicht noch einmal.
Sie löste den Riegel und öffnete den Fensterladen.
An einem kohlschwarzen Himmel glommen ein paar trübe Sterne. Eine klamme Brise sickerte ins Zimmer und verursachte ihr eine Gänsehaut. Makepeace wurde die Brust eng in der Gewissheit, dass noch etwas anderes außer dem Wind hereingekommen war. Die Dunkelheit war mit einem Mal anders beschaffen, und sie war nicht länger allein.
Makepeace überkam das schreckliche Gefühl, dass sie womöglich etwas Unwiderrufliches getan hatte. Ihre Haut kribbelte. Wieder fühlte sie es, dieses Kitzeln von Spinnenfüßen an ihrem Geist. Die verlangende, zögerliche Berührung des Todes.
Sie wich vom Fenster zurück und versuchte, ihre geistigen Abwehrkräfte zu mobilisieren. Aber wenn sie an Mutter dachte, wurden ihre selbst erfundenen Bannsprüche so nutzlos wie ein altes Kinderlied. Makepeace kniff die Augen zu, aber sie sah trotzdem Mutters Gesicht vor sich, wie es im Kerzenlicht an jenem ersten Abend in der Kapelle ausgesehen hatte. Ein fremdes Wesen mit einem unergründlichen Ausdruck, dem jede Wärme fehlte.
An ihrem Nacken spürte sie einen eisigen Hauch, den Atem von etwas Atemlosen. Ein Kitzeln an ihrem Gesicht und an ihrem Ohr – eine Haarsträhne, nichts weiter, das musste es sein. Sie erstarrte und atmete flach.
«Ma?», flüsterte sie so leise, dass ihre Stimme kaum die Luft aufwirbelte.
Eine Stimme antwortete ihr. Eine Beinah-Stimme. Ein geschmolzenes Etwas aus Klang, wie das Lallen eines Schwachkopfs, mit zerbrochenen und ausfasernden Konsonanten. Es war ihrem Ohr so nah, dass es in ihrem Kopf summte.
Makepeace riss die Augen auf. Da – da! – direkt vor ihr war ein wirbelndes, mottengraues,