das Parlament zusammengerufen, und alle, die Makepeace kannte, waren freudig erregt und erleichtert gewesen. Aber vor zwei Tagen hatte er das Parlament in einem Anfall königlicher Rage wieder entlassen. Jetzt lag ein drohendes Grollen in dem Murmeln der Leute, die bleiche Sonne im Himmel schien zu erzittern, und alle warteten darauf, dass etwas geschehen würde. Jedes Mal, wenn irgendwo ein lauter Schlag oder ein Schrei ertönte, sahen alle auf. Hat es angefangen?, fragten ihre Augen. Niemand wusste so recht, was es war, aber es stand unzweifelhaft kurz bevor.
«Ma … warum sind so viele Lehrburschen unterwegs?», fragte Makepeace leise.
Zu Dutzenden waren sie auf der Straße, standen zu zweit oder zu dritt in Türrahmen oder Gassen, mit kurz geschnittenen Haaren, ruhelos, die Hände schwielig von Webstuhl und Drechselbank. Die Jüngsten waren etwa vierzehn, die Ältesten Anfang zwanzig. Sie hätten eigentlich alle bei der Arbeit sein und die Anweisungen ihrer Meister befolgen sollen, und doch standen sie draußen im Freien.
Die Lehrburschen waren die Wetterhähne für die Stimmung in der Stadt. Wenn London mit sich selbst im Reinen war, waren sie nichts weiter als Jungen, die herumbummelten, flirteten und die Welt mit geschmacklosen und gewitzten Sprüchen spickten. Aber wenn es in London stürmisch zuging, wandelten sie sich. Ein dunkles und feuriges Wetter wütete in ihren Reihen, und manchmal wurden sie wild und schlossen sich zu zügellosen Mobs zusammen, die Türen und Schädel mit ihren Stiefeln und Knüppeln zerbrachen.
Mutter betrachtete die kleinen, müßigen Grüppchen und machte ein besorgtes Gesicht.
«Es sind ziemlich viele», stimmte sie Makepeace zu. «Wir gehen nach Hause. Die Sonne steht ohnehin schon tief. Und … du wirst deine Kraft brauchen. Es ist eine warme Nacht heute.»
Einen Augenblick lang empfand Makepeace Erleichterung, dann sank Mutters letzter Satz in ihren Geist. Makepeace blieb wie angewurzelt stehen, überwältigt von Fassungslosigkeit und Wut.
«Nein!», fuhr sie auf, überrascht von ihrer eigenen Entschlossenheit. «Ich werde nicht gehen! Ich gehe nie wieder auf diesen Friedhof.»
Mutter schaute sich scheu um, packte dann Makepeace am Arm und zerrte sie in die nächstbeste Gasse.
«Du musst!» Mutter nahm Makepeace bei den Schultern und schaute ihr fest in die Augen.
«Beim letzten Mal wäre ich beinahe gestorben!», protestierte Makepeace.
«Du hast dich bei der Archers-Tochter mit den Pocken angesteckt», versetzte Mutter. «Der Friedhof hatte nichts damit zu tun. Eines Tages wirst du mir danken. Ich habe es dir doch gesagt – ich sorge dafür, dass du deinen Stock spitzt.»
«Ja, ich weiß!», rief Makepeace, die ihre Verzweiflung nicht verbergen konnte. «Die ‹Wölfe› sind die Geister, und du willst, dass ich lerne, stark zu sein, damit ich sie abwehren kann. Aber warum kann ich mich nicht einfach von Friedhöfen fernhalten? Wenn ich nicht in der Nähe von Geistern bin, dann droht mir keine Gefahr! Du selbst wirfst mich doch den Wölfen vor, wieder und wieder!»
«Du irrst dich», sagte Mutter leise. «Diese Geister sind nicht die Wölfe. Diese Geister sind nichts weiter als hungrige Schemen – nichts im Vergleich zu den Wölfen. Und die Wölfe sind da draußen, Makepeace. Sie suchen nach dir, und eines Tages werden sie dich finden. Bete, dass du dann erwachsen und stark genug bist, um dich zu wehren.»
«Du versuchst doch nur, mir Angst einzujagen», sagte Makepeace. Ihre Stimme zitterte, aber nicht vor Angst, sondern vor Zorn.
«Richtig! Hältst du dich etwa für eine bedauernswerte Märtyrerin, die sich nachts zitternd zusammenkauert, während diese kleinen Irrlichter an ihren Wangen lecken? Das ist gar nichts. Da draußen gibt es viel Schlimmeres. Du solltest Angst haben!»
«Warum können wir nicht meinen Vater bitten, uns zu beschützen?» Makepeace wusste, dass sie sich auf ein gefährliches Terrain begab, aber sie war zu weit gegangen, um jetzt noch umzukehren. «Ich wette, er würde mich nicht auf irgendwelche Friedhöfe schicken!»
«Er ist der Letzte, den wir um Hilfe bitten können», sagte Mutter mit einer Bitterkeit, die Makepeace noch nie bei ihr gehört hatte. «Vergiss ihn.»
«Warum?» Plötzlich ertrug Makepeace das ganze Schweigen in ihrem Leben nicht mehr, all das, wonach sie nicht fragen und was sie nicht aussprechen durfte. «Warum erzählst du mir nie etwas? Ich glaube dir nicht mehr! Du willst nur, dass ich auf ewig bei dir bleibe! Du willst mich für dich allein haben! Du willst mich nicht zu meinem Vater lassen, weil du weißt, dass er mich haben will!»
«Du hast ja keine Ahnung, wovor ich dich bewahrt habe!», fuhr ihre Mutter auf. «Wenn wir in Grizehayes geblieben wären …»
«Grizehayes», wiederholte Makepeace und sah, wie ihre Mutter bleich wurde. «Lebt mein Vater da? Ist dies das alte Haus, das du erwähnt hast?» Jetzt hatte sie einen Namen. Endlich. Das bedeutete, dass sie danach suchen konnte. Irgendwo würde irgendjemand diesen Namen kennen.
Aber der Name klang merkwürdig. Sie konnte sich das Haus, zu dem er gehörte, nicht vorstellen. Es war, als ob ein schwerer, silbriger Nebel zwischen ihr und seinen uralten Zinnen lag.
«Ich werde nicht mehr auf den Friedhof gehen», sagte Makepeace. Ihre Willenskraft stemmte sich fest in die Erde und machte sich auf Widerstand gefasst. «Nie mehr. Wenn du mich zwingst, dann laufe ich weg. Ganz bestimmt. Ich werde nach Grizehayes gehen. Ich werde meinen Vater finden. Und ich werde nie zurückkommen.»
Mutters Augen wurden glasig vor Verblüffung und Wut. Mit dieser neuen, trotzigen Makepeace wusste sie nicht umzugehen. Dann sickerte alle Wärme aus ihrer Miene, und zurück blieb eine kalte, ausdruckslose Maske.
«Dann lauf doch», sagte sie eisig. «Wenn es das ist, was du willst, von mir aus. Ich werde dich nicht aufhalten. Aber wenn du dich in die Hände dieser Leute begibst, dann sag später nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.»
Mutter gab niemals nach, wurde niemals weich. Wenn Makepeace sie herausforderte, verdoppelte Mutter einfach den Einsatz, deckte Makepeaces Bluff auf und ließ sie dann im Regen stehen. Und die Drohung, wegzulaufen, war tatsächlich nur ein Bluff gewesen. Aber als sie jetzt in Mutters kalte Augen starrte, kam ihr zum ersten Mal der Gedanke, dass sie es vielleicht tatsächlich tun würde. Die Vorstellung raubte ihr den Atem; sie hatte ein Gefühl von Schwerelosigkeit.
Und dann schaute Mutter über Makepeaces Schulter hinweg auf etwas hinter ihr auf der Straße, und mit einem ungläubigen Ausdruck erstarrte sie. Ihre Lippen formten Worte, die sie so leise aussprach, dass Makepeace sie kaum verstehen konnte.
… Wenn man vom Teufel spricht …
Makepeace schaute hinter sich und sah gerade noch einen groß gewachsenen Mann in einem Mantel aus kostbarer dunkelblauer Wolle vorbeigehen. Er war etwa vierzig Jahre alt, aber sein Haar war schneeweiß.
Sie kannte das Sprichwort: Wenn man vom Teufel spricht, kommt er herein. Mutter hatte von «diesen Leuten» gesprochen, von den Leuten aus Grizehayes, und dann hatte sie diesen Mann gesehen. War das jemand aus Grizehayes? Vielleicht sogar ihr Vater?
Makepeace fing den Blick ihrer Mutter auf. Ihre eigenen Augen waren wild vor Erregung und Triumph. Dann drehte sie sich um und wollte in Richtung der Straße laufen.
«Nein!», zischte Mutter und packte mit beiden Händen ihren Arm. «Makepeace!»
Aber ihr Name war nur ein leises Schaben an Makepeaces Ohr. Sie hatte es satt, Frieden zu machen mit all den Problemen, für die sie nie eine Erklärung bekam. Sie entwand sich dem Griff ihrer Mutter und rannte zu der Straße hin.
«Du bringst mich noch ins Grab!», rief ihre Mutter ihr nach. «Makepeace, bleib stehen!»
Makepeace blieb nicht stehen. Sie sah den blauen Mantel und das weiße Haar des Fremden weit voraus, als er um eine Ecke bog und verschwand. Ihre Vergangenheit drohte ihr zu entgleiten.
Als sie die Ecke erreichte, wurde er gerade von der Menschenmenge verschluckt, und sie rannte ihm hinterher. Makepeace hörte hinter sich, wie Mutter ihren Namen rief, doch sie schaute sich