der anderen Seite der Wand schliefen Makepeaces Tante und Onkel, denen die Pastetenbäckerei unten im Erdgeschoss gehörte. Die Tante war laut und ehrlich, aber der Onkel schaute immer griesgrämig drein und war niemals zufrieden. Seit sie sechs Jahre alt war, musste Makepeace auf ihre vier kleinen Kusinen und Vettern aufpassen, die ständig gefüttert, gesäubert, verarztet, umgezogen oder von den Bäumen der Nachbarn heruntergeholt werden mussten. In der wenigen freien Zeit, die ihr noch blieb, erledigte sie Botengänge und half in der Küche. Trotzdem schliefen Mutter und Makepeace auf einer Matratze in einer zugigen kleinen Kammer abseits der anderen Schlafzimmer. Ihr Platz in dieser Familie kam ihnen nur geliehen vor, als ob man ihnen jederzeit fristlos kündigen konnte.
«Und schlimmer noch – jemand könnte den Pastor rufen», fuhr Mutter fort. «Oder … andere könnten davon erfahren.»
Makepeace wusste nicht, wer diese anderen sein sollten, aber «andere» waren immer eine Bedrohung. Zehn Jahre mit ihrer Mutter hatten sie gelehrt, dass man niemandem vertrauen durfte.
«Ich versuch’s ja!» Nacht für Nacht betete Makepeace inbrünstig und legte sich dann in die Dunkelheit, in der festen Absicht, nicht zu träumen. Aber der Albtraum suchte sie trotzdem heim, voller Mondlicht, Geflüster und unfertiger Formen und Gestalten. «Was soll ich tun? Ich will ja aufhören!»
Mutter schwieg lange Zeit, dann drückte sie Makepeaces Hand.
«Ich erzähle dir eine Geschichte», sagte sie, was sie manchmal tat, wenn es eine ernste Angelegenheit zu besprechen gab. «Es war einmal ein kleines Mädchen, das hatte sich im Wald verlaufen, wo es von einem Wolf gejagt wurde. Das Mädchen rannte und rannte, bis seine Füße blutig waren, und immer noch rannte es weiter, denn es wusste, dass der Wolf Witterung aufgenommen hatte und der Spur immer noch folgte. Das Mädchen hatte zwei Möglichkeiten: Entweder es rannte und versteckte sich bis in alle Ewigkeit, oder aber es blieb stehen und schnitt sich einen spitzen Stock, um sich zu verteidigen. Was hättest du getan, Makepeace?»
Makepeace wusste, dass diese Geschichte nicht bloß eine Geschichte war und dass viel von ihrer Antwort abhing.
«Kann man einen Wolf mit einem Stock bekämpfen?», fragte sie zweifelnd.
«Mit einem Stock hat man eine Chance.» Ihre Mutter schenkte ihr ein kleines, trauriges Lächeln. «Eine geringe Chance. Aber es ist gefährlich, stehen zu bleiben.»
Makepeace dachte lange nach.
«Wölfe können schneller rennen als Menschen», sagte sie schließlich. «Selbst wenn sie immer weiterrennt, wird der Wolf sie eines Tages erwischen und auffressen. Sie braucht einen spitzen Stock.»
Mutter nickte langsam. Sie sagte nichts mehr und erzählte auch nicht, wie die Geschichte ausging. Makepeace gefror das Blut in den Adern. So war Mutter manchmal. Aus Gesprächen wurden Rätsel mit Fallstricken, und die Antworten blieben nie ohne Folgen.
Solange sich Makepeace erinnern konnte, hatten sie und ihre Mutter in der kleinen, geschäftigen Beinahe-Stadt Poplar gelebt. Eine Welt ohne den Gestank nach Kohlenfeuerrauch und Teer, der von den großen, ratternden Werften geweht kam, ohne die rasselnden Pappeln, die dem Ort seinen Namen gegeben hatten, und ohne die saftig grünen Marschen, wo das Vieh graste, war für sie nicht vorstellbar. London lag ein paar Meilen entfernt, eine dunstige Masse voller Bedrohung und Verlockung. Das alles war ihr so vertraut, gehörte zu ihr wie ihr Atem. Und doch hatte Makepeace nicht das Gefühl, hierher zu gehören.
Mutter sagte niemals: Dies ist nicht unser Zuhause. Aber ihre Augen sagten es unentwegt.
Als sie nach Poplar gekommen war, hatte Mutter ihrer kleinen Tochter einen neuen Namen gegeben und sie fortan Makepeace gerufen, damit man sie hier beide leichter annehmen würde. Makepeace kannte ihren ursprünglichen Namen nicht, und dieser weiße Fleck in ihrem Leben sorgte dafür, dass sie sich ein bisschen unwirklich fühlte. Makepeace kam ihr auch nicht wie ein richtiger Name vor. Es war ein Friedensangebot – denn genau das bedeutete ihr Name: Frieden stiften –, ein Angebot an Gott und alle gottesfürchtigen Leute von Poplar. Es war eine Entschuldigung für die Lücke, wo Makepeaces Vater hätte sein sollen.
Alle, die sie kannten, waren gottesfürchtig. Die Gemeinde hatte sich dieses Attribut selbst verliehen, nicht aus Stolz, sondern um sich von all jenen abzugrenzen, die auf der dunklen Straße zur Hölle unterwegs waren. Makepeace war nicht die Einzige mit einem merkwürdigen, fromm klingenden Namen. Da gab es noch Verity, What-God-Will, Forsaken, Deliverance, Kill-Sin und so weiter.
Jeden zweiten Abend fanden im Salon der Tante Gebetsstunden und Bibellesungen statt, und sonntags gingen alle in die hoch aufragende Kirche aus grauem Kalkstein.
Der Pastor war ein freundlicher Mann, wenn man ihm auf der Straße begegnete, aber oben auf der Kanzel war er furchterregend. Wenn Makepeace in die gebannten Gesichter der Gläubigen schaute, dann wusste sie, dass aus ihm eine große Wahrheit leuchten musste – und Liebe, wie aus einem kalten, weißen Kometen. Er predigte ihnen, sich gegen die teuflischen Versuchungen zur Wehr zu setzen, zu denen der Alkohol, das Glücksspiel, der Tanz, die Theater und alle unnützen Vergnügungen am Sabbath zählten, alles Fallstricke, die Satan ausgelegt hatte. Er erzählte ihnen, was in London und der großen weiten Welt vor sich ging, erzählte von den jüngsten Intrigen am Hof, den Machenschaften der tückischen Katholiken. Seine Predigten waren beängstigend und gleichzeitig erregend. Manchmal hatte Makepeace beim Verlassen der Kirche das prickelnde Gefühl, dass die Gemeindemitglieder Soldaten in glänzenden Rüstungen waren, die gegen die Mächte der Finsternis zu Felde zogen. Dann konnte sie eine kleine Weile glauben, dass Mutter und sie selbst Teil von etwas Größerem waren, von etwas Wunderbarem, das sie mit all ihren Nachbarn gemein hatten. Doch dieses Gefühl war nie von Dauer. Nach kurzer Zeit standen sie wieder zu zweit auf einsamem Posten.
Mutter sagte niemals: Das sind nicht unsere Freunde. Aber jedes Mal, wenn sie die Kirche betraten oder auf den Markt gingen oder stehen blieben, um jemanden zu begrüßen, packte sie Makepeace fester an der Hand. Es war, als ob eine unsichtbare Umzäunung Mutter und Makepeace von allem anderen trennte. Und so schenkte Makepeace den anderen Kindern das gleiche halbe Lächeln, das ihre Mutter für deren Mütter übrig hatte. Den anderen Kindern, die einen Vater hatten.
Kinder sind wie kleine Pastoren, die ihre Eltern genau beobachten und in jeder Geste und jedem Ausdruck nach Zeichen ihres göttlichen Willens suchen. Von ihrer frühesten Kindheit an war sich Makepeace darüber im Klaren, dass sie und Mutter niemals sicher waren und dass sich die anderen gegen sie wenden konnten.
Und so hatte Makepeace Trost und Gesellschaft bei sprachlosen Wesen gesucht. Sie kannte die geschäftige Hinterlist von Bremsen, die ängstliche Aggressivität von Hunden und den schweren Gleichmut der Kühe.
Manchmal geriet sie daher in Schwierigkeiten. Einmal kam sie mit einer gespaltenen Lippe und einer blutigen Nase nach Hause, nachdem sie ein paar Jungen angeschrien hatte, die Steine auf ein Vogelnest warfen. Vögel für den Suppentopf zu töten oder Eier für das Frühstück zu stehlen, ging völlig in Ordnung, aber sinnlose, dumme Grausamkeit erweckte in Makepeace einen Zorn, den sie nicht genau erklären konnte. Die Jungen hatten sie verblüfft angestarrt und dann mit Steinen nach ihr geworfen. Natürlich, warum auch nicht? Grausamkeit war normal, sie gehörte genauso zu ihrem Leben wie die Blumen und der Regen. Sie waren an den Rohrstock in der Schule gewöhnt, an die Schreie der Schweine beim Schlachter und das Blut in den Sägespänen der Hahnengrube. Kleine gefiederte Lebewesen totzuschlagen, war für sie genauso natürlich und befriedigend wie in Regenpfützen zu springen.
Wenn man auffiel, bekam man eine blutige Nase. Um zu überleben, mussten sich Mutter und Makepeace einfügen. Was ihnen aber nie richtig gelang.
In der Nacht nach der Wolfsgeschichte brachte Mutter Makepeace auf den alten Friedhof, ohne einen Grund dafür zu nennen.
Nachts wirkte die Kirche hundertmal größer, und ihr Turm sah aus wie ein unerbittlicher Klotz aus abgrundtiefem Schwarz. Das Gras unter ihren Füßen war holprig und grau im Sternenlicht. In einer Ecke des Friedhofs stand eine kleine Kapelle aus Backstein, die schon lange nicht mehr benutzt wurde. In diese Kapelle gingen sie, und Mutter warf ein paar Decken in eine Nische des düsteren Gebäudes.
«Können