offene Grenzen und schlichtweg den Vormarsch des Kommunismus aus. Ihre Wohnung war eine Sammelstelle für linke Aktivisten und Lokalpolitiker, Journalisten, deren Storys sie diktierte, und betuchte Freunde, die ihr Schecks ausstellten, für Hausbesetzer, ehemalige Häftlinge und Geflüchtete, die als abgewetzte Gesandtschaften in ihrer Wohnung Einzug hielten und Kritik an allem übten, was sie tat. Oft blieben sie über Nacht, und es gab immer ein paar Albaner, die alles mit ihren Zigaretten vollqualmten, am Frühstückstisch herumbrüllten und ihre Gabeln in die Luft stießen, um ihre Argumente zu untermalen. Dann war da noch die einer hohen Fluktuation unterworfene Gruppe der Katalogbräute, dazu eine bunt gemischte Horde mittelloser Herumtreiber, sowie Martin, der neuseeländische Gartengestalter, dessen Anwesenheit Sabine als Bedingung für ihr eigenes Mietverhältnis hatte in Kauf nehmen müssen.
Jedes Wochenende gab es eine Party, die von den immer gleichen Leuten mit jeweils anderen Outfits besucht wurde. Einmal war es eine intime Runde, wo alle auf dem Boden saßen und von den Depressionen erzählten, die sie einmal gehabt hatten; ein anderes Mal wurde es eine wilde Fete, auf der die Katalogbräute in Bikinioberteilen tanzten und eine Korrespondentin von La Prensa ihren Fuß durch eine der afrikanischen Trommeln stieß. Eines Samstags fand eine ungeplante Party statt, weil immer mehr Leute mit Weinflaschen in der Hand auftauchten, die darauf hofften, dass eine Party stattfände, von der sie nicht gehört hatten. Bei einer Party anlässlich der Präsidentschaftsdebatte gestand ein betrunkener Abgeordneter Sabine, dass er seine Frau für sie verlassen wollte, und als Sabine ihn abwies, schloss er sich im Badezimmer ein und rasierte seinen Kopf.
Kate kannte sie alle. Und sie alle kannten Kate. Die Hälfte der Männer begehrte sie; Frauen zerrten sie in eines der Schlafzimmer, um ihr Geheimnisse anzuvertrauen. Ben gehörte zu ihr, also gehörte er automatisch zur vordersten Riege, wurde zu Küchenversammlungen und zum Kokainkonsum eingeladen, bekam Jobs im Bürgermeisteramt von Jersey City angeboten. Das stieg ihm zu Kopf. Er ergriff Partei. Es ging ihn etwas an. Er wurde ein gabelschwingender Frühstücksschreihals. Er legte Zwanzigdollarscheine in Spendenbüchsen und marschierte los, um in der Bronx an die Haustüren zu klopfen. Allein die Tatsache, dass er zu Sabines Freundeskreis gehörte, vermittelte ihm das Gefühl, ein Soldat im Kampf für die gute Sache zu sein; er war nicht länger einfach nur Ben, existierte nicht länger nur für sich selbst, sondern wurde zum unbezwingbaren Ben, der für die ganze Menschheit da war.
Immerhin war es das Jahr 2000 – das Jahr von Präsidentin Chen, das erste Jahr ganz ohne Krieg, in dem man die Zeitung wie ein Geschenk öffnete; das Jahr der Massenproteste, bei denen immer wieder dasselbe blinde Mädchen immer wieder dieselbe irische Melodie auf der Geige spielte; das Jahr, in dem Les Girafes die Botschaft in Deutschland besetzten und Anarchisten- und Totenkopfflaggen aus den zerschlagenen Fenstern flattern ließen; das beste Jahr überhaupt, das Jahr, in dem Ben zum ersten Mal verliebt war.
Und erstmals einen Blick auf Utopia erhaschte. In Bars und Taquerías, im berauschenden Dunkel des stark beanspruchten Betts, auf der Dachterrasse, über und zwischen der Sternenpracht von Upper Manhattan, glaubte er, was Kate glaubte, war (in seiner Vorstellung) stets leicht benebelt vom Wein, tanzte in einem dicht gedrängten Schwarm von Katalogbräuten und Parteisoldaten, während die Welt zu einem Nebenschauplatz aus Träumen, aus Büchern, aus Kate wurde.
Der erste Misston erklang bei dem Debendranath-Gespräch – jene Unterhaltung, die Ben mit allen neuen Leuten führen musste und in der er erklärte, dass sein Vorname Debendranath lautete und nicht Benjamin, wie die Leute stets annahmen. Es war auf einer der früheren Partys passiert, Ben und Kate hatten sich davongeschlichen, um allein zu sein. Sie versteckten sich in einem der Schlafzimmer und rauchten einen Joint, wie zwei Teenager (sagte Kate), die bald hochdramatisch von ihren strengen Eltern dabei erwischt würden, wie sie einen Joint rauchten.
Dann erzählte er ihr, dass er Debendranath hieß (»Siehst du, eigentlich doch eine Art Rumpelstilzchen«) und Kate erwiderte, dass ihr mehrsilbige Namen gefielen und dass der Name für eine Person, die Ungarisch sprach, gar nichts sei, und sie wiederholte: »Debendranath, Debendranath, Debendranath«, und Ben in seiner bekifften Verwirrung musste lachen.
Daraus entwickelte sich das klassische Elterngespräch, und Ben war erstaunt, als er erfuhr, dass Kate ihre Eltern als ihre besten Freunde betrachtete. Sie liebte sie einfach, null Probleme, und ging jeden Sonntag zum Mittagessen zu ihnen. Sie lasen gemeinsam Zeitung, aßen ungarisches Gebäck und beklagten sich über die zeitgenössische Kunst. Kates Mutter war Professorin für Ungarisch, ihr Vater war Künstler, sein Gebiet waren Arbeiten auf Papier – genau wie Kate. Und Bens Eltern?
An diesem Punkt musste Ben gestehen, dass er seine Eltern nicht mochte. Nun, sagte er, seine Mutter würde von allen gehasst. Es sei möglich, sie zu bemitleiden, da sie ihr halbes Leben in psychiatrischen Einrichtungen verbracht habe und von den Ärzten gehasst würde, doch sie zu mögen, sei nicht möglich. Sie sei hochgradig narzisstisch. Wenn man sie nicht bewunderte, würde man in ihren Augen zum Feind, sie beschimpfe einen und drohe mit Selbstmord. Nicht einmal ihre Schwestern in Kalkutta sprächen mit ihr, eine echte Großtat, wenn man bedenke, wie eine bengalische Familie funktioniere. Bens Vater sei ganz in Ordnung. Oder könnte ganz in Ordnung sein, wenn er nicht von Swati (Bens Mutter) vollständig unterdrückt würde. Ben konnte Kate kaum in die Augen sehen, während er das sagte; jeder wusste, dass Männer mit furchtbaren Müttern früher oder später zu Frauenhassern wurden.
Kate schien das offensichtlich nicht zu wissen und reagierte sehr merkwürdig, indem sie überlegte, ob man die Ehe von Bens Eltern nicht auflösen könnte.
»Dann würde meine Mutter sich umbringen«, sagte Ben und klang genervt. »Deshalb verlässt mein Vater sie nicht.«
»Hat er das gesagt?«
»So etwas würde er mir doch nicht sagen. Hör mal.«
»Aber was, wenn sie sich wirklich umbringen würde? Wäre das wirklich so viel schlimmer?«
»Wow.«
»Nein, ich meine, wenn sie sich vor Jahren umgebracht hätte, wärst du jetzt nicht glücklicher?«
»Du verstehst wirklich nicht, was es bedeutet, schlimme Eltern zu haben, oder?«
Kate runzelte die Stirn. Ihr Gesichtsausdruck intensivierte sich, er konnte nicht mit Sicherheit sagen, auf welche Weise. Einen schrecklichen Moment lang dachte er, Kate könnte ebenfalls Narzisstin sein, und eine Übelkeit befiel ihn, die er von seiner Höhenangst kannte. Dann aber wurde der Blick ihrer schwarzen Augen ganz weich. Es sah aus, als würde sie gleich zu weinen beginnen, doch stattdessen errötete sie und kreuzte die Arme gegen die Brust.
»Tut mir leid«, sagte sie. »Ich bin ein Idiot. Manchmal sage ich wirklich furchtbare Dinge.«
An dem Gespräch war eigentlich nichts wirklich verkehrt. Sie waren beide ziemlich fertig gewesen und Kate hatte sich entschuldigt. Tatsächlich löste sich Bens Beunruhigung in Nichts auf, sobald er darüber nachdachte. Wenn er aber nicht darüber nachdachte, machte ihm die Sache zu schaffen und er musste doch wieder darüber nachdenken. Schließlich taufte er sie »die Anomalie« und versuchte, sie aus seinem Kopf zu verbannen.
Der nächste seltsame Vorfall ereignete sich auf jener Party, auf der Ben zum ersten Mal auf Oksana traf, die ukrainische Katalogbraut.
Er hatte viel von Oksana gehört, teils, weil sie diejenige war, die die Hilfsorganisation für Katalogbräute leitete, teils, weil sie die Angewohnheit hatte, sich auf Partys auszuziehen. Deshalb erkundigten sich auf Sabines Party stets alle Männer und Lesben in hoffnungsvollem Ton: »Kommt die Nackte?«, und auch einige Hetero-Frauen und schwule Männer fragten lüstern: »Ist die Nackte auch da?« Dann unterhielten sich alle darüber, wie sehr die Anwesenheit einer nackten Frau die Atmosphäre veränderte, bis jemand die Organisation für Katalogbräute erwähnte und jemand anderes erwiderte: »Das vergesse ich immer. Für mich ist sie immer nur die Nackte.«
Weil sie nackt war, erkannte Ben sie sofort. Er beobachtete sie, als sie den Raum betrat, und war schockiert darüber, dass sie nicht wie ein Pin-up aussah, wie er sie sich immer vorgestellt hatte, obwohl ihm mehrfach gesagt worden war, dass sie einen ganz normalen Körper habe. Und den hatte sie tatsächlich. Sie hatte eine flache Brust, einen