du der Richtige für dieses Projekt bist.«
»Ein Projekt, über das ich nicht das Geringste weiß«, spottete Richard.
»Das wird sich möglicherweise bald ändern.« Die klaren, lauten Worte waren von jemandem ausgesprochen worden, der jetzt hinter ihm sein musste. Richard wandte sich erneut um und sah sich einem Mann gegenüber, der, wie er selbst, auf dem Plexiglas über der Grube stand.
Der Mann überragte Richard um einen halben Kopf und hatte die Statur eines Boxers im Schwergewicht. Sein schwarzes Haar stand wild vom Kopf ab, sein ebenso schwarzer Bart wucherte ungehemmt in alle Richtungen. Und der weiße Laborkittel, der jedem anderen Mann eine gewisse Würde verliehen hätte, wirkte an ihm wie eine lächerliche Küchenschürze.
»Ingress ist mein Name. Ich bin der Leiter dieser Forschungsabteilung. Zuweilen fühle ich mich aber eher wie eine Art Herbergsvater in einem Haus voller unerzogener Jungen.«
»Verzeihung, Professor Ingress, ich habe nur getan …« Martin Holts unterwürfig klingende Worte schnitt die eindrucksvolle Gestalt vor ihnen mit einer einzigen Handbewegung ab.
Martin trat jetzt neben Richard und dieser konnte die Ehrfurcht und den Respekt, den sein neuer Freund gegenüber dem Professor empfand, fast greifen. »Dies hier ist Dick … ich meine Richard Blunt. Ein sehr begabter und sehr fähiger Kollege, der sich für Kunstgeschichte und Archäologie begeistert. Ich denke, er ist genau die Unterstützung, die ich für meine Arbeit brauche.«
Die schmalen Lippen inmitten des schwarzen Bartes umspielte ein Lächeln. »Es ist schön, dass du denkst, mein junger Freund. Denken ist eine Fähigkeit, die ich sehr schätze.«
Der offensichtliche Spott des Älteren veranlasste Martin Holt, den Kopf wie ein Schuljunge zu senken, der bei einer Albernheit ertappt wurde.
Richard war sprachlos angesichts dieses Wandels, der mit dem selbstbewussten, ja manchmal schon arroganten Martin Holt vor sich ging, und er konnte ihn nicht ganz nachvollziehen. Sicher, dieser Professor Ingress war eine eindrucksvolle Erscheinung. Aber dennoch konnte man ihm doch wohl gegenübertreten wie ein Mann.
»Ich freue mich, Sie kennenzulernen.« Richard trat einen halben Schritt vor und reichte dem Bärtigen die Hand, die dieser mit seiner Pranke ergriff und schüttelte.
»Behaupten Sie jetzt nicht, schon viel von mir gehört zu haben, sonst müsste ich Sie fragen, was genau Sie gehört haben, und darauf hätten Sie keine Antwort, Mister Blunt.«
Okay, jetzt begann Richard zu ahnen, warum Martin gerade in Ehrfurcht erstarrt war. Dieser Professor Ingress sprach unumwunden aus, was er gerade dachte, und das war in der heutigen Zeit eine Seltenheit. Noch immer griff der durchschnittliche Engländer im Allgemeinen auf nichtssagende Gesprächsfloskeln zurück und das änderte sich üblicherweise auch nicht vor dem dritten gemeinsamen Bier.
»Sind Sie politisch interessiert, Mister Blunt? Haben Sie eine Meinung zum Weltgeschehen?«
Schon wieder so eine direkte Äußerung. Richard entschied, genauso unumwunden zu antworten. »Mich interessiert Politik erst, wenn sie zur Geschichte mutiert. Gut abgehangen vertrage ich Nachrichten einfach am besten.«
Ingress runzelte die Stirn. »Wir haben die Sechziger, ein junger Mann, wie Sie einer sind, sollte sich für die Weltpolitik interessieren, sollte eine Meinung haben und sie vertreten.«
»Leider interessiert niemanden meine Meinung, aber das kann sich ja noch ändern«, erwiderte Richard und wünschte, der Professor würde ihn endlich wieder freigeben.
»Tee.« Ingress hielt seine Hand noch immer fest. »Wir werden Tee zusammen trinken. In meinem Studierzimmer. Und dann werden wir beide entscheiden, ob dies der richtige Ort für Sie ist, Mister Blunt. Keine politische Meinung ist mir immer noch lieber als die falsche.«
»Ich werde mich persönlich um den Tee kümmern und nachkommen, Professor«, ließ sich nun wieder Martin Holt vernehmen, der den Kopf noch immer gesenkt hielt.
»Gehen Sie an Ihre Arbeit, Holt.« Die Stimme des Professors klang plötzlich streng. »Schicken Sie uns lieber Heyworth aus der Verhaltensforschung mit dem Tee ins Studierzimmer.«
»Sehr gern«, würgte Martin hervor und trat ab.
Richard spürte das Pochen in seinem Knie kaum noch, als Ingress seine Hand endlich freigab. Dies tat der Professor jedoch nur, um ihn jetzt an der Schulter zu packen und abzuführen.
Allein das nun freundlich wirkende Lächeln des Mannes gab Richard das Gefühl, nicht in Gefahr zu schweben. Alles andere an dieser Situation hätte er sonst ausgesprochen beunruhigend gefunden.
Aus den Augenwinkeln beobachtete er gerade noch, wie Martin davoneilte, während der krumme Billy auf einer Bank im Flur Platz nahm und nach einem Kreuzworträtsel griff. Anscheinend blieb dieser Flur niemals unbewacht. Und obwohl Richard diesen Ort erst vor wenigen Minuten betreten hatte, wünschte er sich bereits wieder hinaus ins warme Licht der Oktobersonne.
September 2019
ADA
Die glatte Betonfläche inmitten des gepflegten Gartens erschien Ada wenig vertrauenerweckend, also breitete sie ihre Picknickdecke am Rand dieses Platzes aus, ließ sich auf einem bestickten Kissen nieder und öffnete ihre Blechdose voller Kekse. Lange würde sie nicht auf Gesellschaft warten müssen.
In Sichtweite ihres gemütlichen Plätzchens wanderte Jig über die Gartenwege, hielt manchmal nachdenklich inne, um dann wieder weiterzuspazieren.
Sie war Adas aktuelles Sorgenkind. Mit ihren siebzehn Jahren war Jig, die von ihren Eltern auf den Namen Jennifer getauft worden war, eigentlich schon zu alt für ein Kindermädchen. Ganz besonders für ein Kindermädchen wie Ada, die mit ihren zweiundsechzig Jahren zielsicher das Rentenalter ansteuerte. Doch abenteuerliche Umstände hatten sie beide zusammengebracht und Ada hatte nicht lang gebraucht, um zu erkennen, dass Jig nicht, wie von den Ärzten und Erziehungsberechtigten angenommen, in eine psychiatrische Klinik gehörte, sondern vielmehr in die Obhut eines Menschen, der sich mit Fabelwesen, Geistern und ja, man musste es sagen, auch mit Monstern auskannte. Mit anderen Worten: Jig brauchte jemanden wie Ada, die in ihrem langen Leben schon viele Kobolde unter Kinderbetten hervorgelockt und auch höchstpersönlich entsorgt hatte.
Ada wusste, dass es Dinge zwischen Himmel und Erde gab, die zu sehen, riechen oder akustisch wahrzunehmen nicht jedem vergönnt war. Doch gerade Kinder waren mit solchen Erfahrungen schnell überfordert, ganz besonders, wenn sie keinen Erwachsenen in ihrem Umfeld hatten, der ihnen den richtigen Umgang mit Haus- oder Naturgeistern beibringen konnte. Aber Jig, die Stimmen hörte und viel mehr Sprachen verstand, als sie selbst ahnte, hatte jetzt Ada, und das war gut so.
»Hier war es«, rief Jig und winkte Ada zu, die fragend eine Augenbraue hob. »Hier habe ich einen der Schrate mit einem Netz voller Orangen verdroschen.«
»Das war deine erste große Tat«, rief Ada zurück und meinte es ehrlich. Denn es war Jigs erste Begegnung mit einem Fabelwesen gewesen, bei dem diese nicht verängstigt reagiert, sondern sich zur Wehr gesetzt hatte.
Jetzt, nur wenige Wochen später, stand eine seelisch schon viel stabilere Jig am selben Ort, und Ada konnte so etwas wie Selbstbewusstsein und Stolz in ihrer Körpersprache erkennen. Das Mädchen war auf einem guten Weg.
»Was zur Hölle machen Sie denn wieder hier?«, vernahm Ada die Stimme eines Mannes.
Sie drehte den Kopf und sah Derek Dreyer auf sich zukommen, den zukünftigen Ex-Mann ihres einstigen Schützlings Valerie.
»Theodor Blunt, Sie erinnern sich doch an Teddy, hat mich wissen lassen, dass Sie heute hier mit Ihrer Noch-Frau verabredet sind«, rief Ada ihm entgegen. »Und ich erlaube es mir, bei dieser spannenden Begegnung anwesend zu sein.«
»Sie verschwinden sofort von meinem Grund und Boden und nehmen diese dürre Vogelscheuche auch gleich wieder mit«, rief er und deutete auf Jig, die in sicherer Entfernung zwischen zwei Rhododendren stand und die Szene beobachtete.
Bei dieser wenig freundlichen Beschreibung