Miriam Rademacher

Ada (Band 2): Die vergessenen Orte


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Ihrer Arbeit?« Eigentlich war es nicht wirklich eine Frage, Richard hatte lediglich geschlussfolgert, und so kam das Nicken des Professors nicht überraschend.

      »Das Abrisshaus, Zugang Eins, wie wir es auch gern nennen, wurde abgesperrt und ich begann meine Arbeit mit einigen meiner treuesten und fähigsten Studenten. Bald schon stießen wir in den noch begehbaren Gängen des Hauses auf einen dieser schwarzen Kerle, dann auf zehn, zwanzig, es wurden immer mehr. Und mit ihnen wuchs der Stab meiner Mitarbeiter.«

      Die Wesen vor ihnen in der Wand setzten jetzt ihren Weg fort und verschwanden aus ihrem Sichtfeld. Das Licht ihrer Augen nahmen sie mit. Doch bevor das Studierzimmer des Professors wieder in völliger Dunkelheit versinken konnte, hatte sich dieser erhoben und das Deckenlicht eingeschaltet. Richard blinzelte einige Male und stellte jetzt überrascht fest, dass die zarte Erscheinung mit dem aschblonden Bubikopf neben ihm eine richtige Schönheit war. Zumindest entsprach sie voll und ganz seinem Typ.

      »Und Ihr Team besteht ausschließlich aus Studenten, die sich nach und nach selbst rekrutieren? Warum?«, fragte Richard den Professor und riss sich vom Anblick der schlanken Frau im Minikleid los.

      »Intelligente Menschen«, erwiderte der Professor. »Jung, voller Energie und von unstillbarem Wissensdurst. Das ist die Art Mitarbeiter, die ich gern um mich habe. Keine besserwisserischen Tattergreise.«

      Aha, dachte Richard. Der Mann ist gern der Kapitän auf seinem Schiff und duldet keine anderen Götter und Meinungen neben sich und seiner eigenen. Nun, das schien nicht besonders ungewöhnlich. Professor Ingress wirkte sowieso sehr von sich eingenommen.

      »Wir arbeiten fast alle in kleinen Teams.« Charlotte Heyworth klang so heiter, als wäre nicht gerade eben erst etwas Ungeheuerliches passiert. »An insgesamt vier verschiedenen Standorten. Zugang Eins, Drei und Vier liegen in anderen Stadtteilen.«

      Ingress ergänzte: »Ich wollte kein Risiko eingehen und habe die Sippe, die wir in der Ruine des Zugangs Eins aufgestöbert hatten, aufgeteilt. Wir betäubten die Kreaturen mithilfe von Ködern und setzten sie in leer stehenden Wohnhäusern wie diesem hier wieder aus. Nachdem sie zur Besinnung gekommen waren, dauerte es nur Stunden und wir fanden in den Räumen keine Spur mehr von ihnen. Sie sind in die Wände eingezogen, wo sie jetzt fleißig an ihren Tunneln bauen. Ameisen könnten nicht effektiver arbeiten als diese Wesen.«

      »Wo werde ich arbeiten? Woraus besteht meine Aufgabe?«, wollte Richard wissen.

      Das Grinsen von Miss Heyworth wurde wieder breit und auch der Professor schien äußerst zufrieden zu sein. Richard begriff, dass er soeben mündlich seinen Arbeitsvertrag unterschrieben hatte und vermutlich die Klausel, die ihn zur Geheimhaltung verpflichtete, gleich mit.

      »Wir arbeiten alle sehr eng zusammen, auch wenn wir es an verschiedenen Plätzen Londons tun«, erwiderte sie. »Martin ist als Historiker der Geschichte dieser Wesen auf der Spur. Er geht Hinweisen nach, versucht zu erfahren, ob diese Spezies nicht doch schon einmal in irgendeiner Form entdeckt und untersucht wurde. Martin bewegt sich zwischen allen vier Standorten und den Bibliotheken hin und her. Ihr Kollege wird froh sein, wenn er diesen Teil der Aufgabe nicht mehr allein stemmen muss.«

      Charlotte Heyworth erhob sich und hielt dem Professor, der noch immer neben dem Lichtschalter stand, die Hand hin. »Ich gehe wieder an die Arbeit.«

      Der Professor ergriff die Hand der Blinden. »Dann nehmen Sie unseren neuen Freund hier, Richard war der Vorname, gleich mit und zeigen Sie ihm alles, was er sehen will.«

      Richard spürte noch immer die Aufregung in sich, die er beim Anblick der Kreaturen empfunden hatte, doch jetzt war noch ein weiteres Gefühl dazugekommen. Freude. Freude darüber, Teil einer großen Sache zu sein. Freude darüber, eine echte Aufgabe zu haben. Er würde Essen und Miete zahlen können und er würde diese zarte Frau immer wieder treffen dürfen.

      September 2019

      VALERIE

      Sie war noch immer außer sich. Wie konnte ihr Haus mit allem, was darin gewesen war, mitsamt der Schrat-Kolonie und Sebastian, einfach verschwinden? Wer hatte das getan und warum? Und was konnte sie tun, um Sebastian, an dessen Tod sie sich weigerte zu glauben, wiederzufinden?

      Teddy und Ada, die nach Dereks recht abruptem Abgang gespürt hatten, in welch schlechter Verfassung sie sich befand, hatten mit ihr noch lange den Garten und die Betonplatte inspiziert, waren aber in Ermangelung neuer Erkenntnisse schließlich auf die Idee verfallen, ein Café aufzusuchen.

      Und nun waren sie hier in diesem verhältnismäßig gemütlichen Ort eingekehrt, für dessen schmucke Aufmachung sie jetzt so gar keinen Blick hatte. Ada und Jig saßen Valerie gegenüber, beide ein großes Stück Sahnetorte vor sich, während sie selbst sich an ihre Tasse Cappuccino klammerte und keinen Appetit verspürte.

      »Alles weg«, murmelte sie und rührte im Schaum herum.

      »Weg oder nur woanders?« Ada sah von ihrem Tortenstück auf. »Das gilt es herauszufinden.«

      »Woanders? Ja, wie soll denn irgendjemand mein Haus fortgeschafft haben? Hat er es auf einen Hänger geladen? Eine Rakete untergeschnallt? Oder einfach tiefergelegt, also im Erdreich versenkt? Und wie sollen wir denn überhaupt vorgehen? Hilft uns Sahnetorte wirklich weiter?« Valerie wusste, dass sie ungehalten klang, was ihren Freunden gegenüber unfair war, doch die Worte purzelten fortwährend aus ihrem Mund und sie konnte sie nicht stoppen. »Wo sollen wir suchen? Wie viel Zeit bleibt uns überhaupt, um Sebastian zu retten?«

      »Um die Frage nach dem ›Wo‹ kümmert sich gerade schon der gute Teddy, und auf die letzte gibt es eine erschreckend einfache Antwort.« Ada legte die Kuchengabel beiseite. »Entweder Sebastian befindet sich in Sicherheit, dann haben wir alle Zeit der Welt. Oder er ist bereits tot. Dann haben wir auch alle Zeit der Welt. Dazwischen gibt es nichts. Möchtest du nicht doch ein Stück Kuchen? Zucker beruhigt die Nerven, meine zumindest.«

      Valerie gab ein Stöhnen von sich und sah durch die große Fensterscheibe des Cafés hinaus auf die Straße. »Und wo steckt Teddy jetzt? Lässt uns hier sitzen und verschwindet wortlos und ohne Erklärung.«

      Nun war es Ada, die zunehmend ungehalten wurde. Valerie beobachtete, wie das alte Kindermädchen das graue, kinnlange Haar zurückstrich und an seinem etwas zu engen Strickkleid zupfte. Unter dem Stoff zeichnete sich die Strafe für zu viel Naschwerk in Form kleiner Speckrollen ab.

      »Er brauchte uns nichts zu erklären, weil ich weiß, was er gerade tut. Und Jig weiß es auch, nicht wahr, Jig? Was habe ich dir beigebracht? Was macht man als Allererstes, wenn man nicht weiß, was vor sich geht, und dringend Informationen benötigt?«

      »Man kauft alle Tageszeitungen, die man ergattern kann, auch die der vergangenen Tage«, leierte Jig ihre Lektion herunter. »Das Internet ist stattdessen nur begrenzt sinnvoll, denn wenn man nicht weiß, wonach man überhaupt sucht, hilft einem keine Suchmaschine. Zeitungen schlagen einem die Informationen ungefragt um die Ohren, das Internet beantwortet Fragen. Wer nicht weiß, wie die Fragen lauten, braucht kein WLAN, sondern einen Kiosk.«

      Ada sah befriedigt auf Jig, die ihr Tortenstück seziert und in lauter kleine Häufchen portioniert hatte.

      Valerie konnte sich nicht helfen, dieser Teenager war irgendwie seltsam. Vielleicht war sie selbst mit Mitte vierzig auch einfach zu alt, um das Mädchen zu verstehen. Vielleicht würde sie ihren Sohn Paul in ein paar Jahren auch nicht mehr verstehen. Vielleicht war sie auch nur zu blöd für die Welt, das hielt sie durchaus für möglich.

      Im Gegensatz zu Ada und Teddy wusste Valerie nur wenig über die Dinge, die sich zwischen Wänden, unter Böden und in verschlossenen Kleiderschränken taten. Ihre Welt war bis vor Kurzem noch völlig normal gewesen. Doch dann war Ada in ihr Leben zurückgekehrt und mit ihr Schwarze Schrate, andere seltsame Kreaturen und der von Schraten abhängige Sebastian. Wenn sie also nicht zu blöd für diese Welt sein sollte, dann war sie doch zumindest gnadenlos überfordert.

      »Wer will die Daily Mail?« Teddy war hereingekommen, den Arm voller Zeitungen, die er jetzt mit Schwung auf den Tisch warf, wobei der Observer mit der Schlagzeile voran in Jigs Sahnehäufchen stürzte.