F. John-Ferrer

Wo sind sie geblieben


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Warnicke hört nicht, er rutscht auf dem Bauch mehr nach links, um nach rechts halten zu können – rüber, wo eben ein Schwarm Sowjets über die Gleise rennt.

      »Herr Leutnant!« Hajek rüttelt Warnicke am Fuß. »So hören Sie doch schon: Wir müssen zurück!«

      Warnicke nimmt den Finger vom Abzug, schaut sich um. Plötzlich zuckt er zusammen und kippt zur Seite.

      Blut rinnt ihm von der Stirn über das rechte Auge; sein Mund steht halboffen, böse grinsend.

      Hajek starrt den Toten an. In Sekunden ziehen Erinnerung vorbei: Stalingrad … finstere Nachtmärsche … Warnicke an der Spitze seiner Kompanie … Warnicke betrunken … Warnicke, der von seinem toten Bruder redet … Warnicke, Warnicke, Warnicke! Wieder einer der Besten dahin!

      Hajek hört das Krachen der Panzerkanonen nicht mehr, hört nicht das heisere Geschrei der Russen, hört nicht das Wüten der Artillerie in der Trümmerstadt; er dreht den Toten auf den Rücken, streichelt ihm über das stoppelbärtige, blutige Gesicht, nestelt das Ritterkreuz vom Hals frei, zerrt es mit einem wütenden Ruck vom Band, knöpft dem Toten Mantel und Uniform auf und holt die Erkennungsmarke von der warmen Haut.

      Da klirrt es, und ein Querschläger pfeift in das Holz des Waggons. Jetzt wieder.

      Hajek schiebt Warnickes Ritterkreuz in die Tasche, packt das MG und einen Munitionskasten und läuft geduckt den Trümmerhäusern entgegen.

      Von diesem Augenblick an weiß Feldwebel Martin Hajek nicht mehr genau, was geschehen ist. Was immer er auch tut, er weiß es später nicht mehr oder nur ganz verschwommen. Er sieht irgendwo Gestalten, die schreien und schießt … und schießt … er ist plötzlich zwischen Trümmern und sieht ein paar Leute, denen er Befehle gibt. Er sieht Tote herumliegen, über die er hinwegspringt, das MG in der Hüfte. Schießend auf erdgraue Gestalten, die irgendwo rennen.

      Die Sowjets haben jetzt das Bahngelände erreicht und treiben ein paar Gestalten hoch, die einige Schritte laufen, nach vorn kippen und liegenbleiben. Panzerkanonen krachen, Motoren brüllen dumpf. Eisen klirrt auf Eisen. Die Panzer mahlen jetzt über die Gleise der Bahnanlage. Sie dringen in den Stadtrand ein, überwalzen eine Pak-Stellung, wuchten durch Häuser, die wie Kartenblätter zusammenfallen.

      Wo ist die 2. Kompanie? Wo sind Tischner, Ebner, Alsdorf, Reischach? Wo sind sie geblieben?

      Da und dort rennt ein deutscher Landser ziellos voran, verschwindet oder fällt mit dem Gesicht auf den hartgefrorenen Boden. In der Luft rauscht und pfeift es. Schwere Einschläge reißen Trümmer hoch und bauen Rauchpilze in die Luft.

      Am östlichen Stadtrand wütet MG-Feuer und bauzen kleinere Geschützkaliber.

      Niemand weiß mehr, wer zu wem gehört.

      Hajek hat kein MG mehr. Es ist leergeschossen und daher wertlos. Irgendwo trifft er in einem Ruinenwinkel Gesichter, die ihm bekannt vorkommen. Leute der Zwoten. Kameraden.

      »Warnicke ist tot«, sagt er mit einer Stimme, die ihm selber fremd vorkommt.

      »Dann ist der Bart ab«, erwidert jemand. »Kameraden, zusammenpacken und …«

      »Halt die Schnauze!«, brüllt Hajek. »Wehr dich, sonst bist du erledigt! Oder denkst du, die machen Gefangene?«

      Es ist Reischach, den Hajek anbrüllt. Der Unteroffizier lässt das Kinn auf die Brust sinken.

      »Es ist doch alles sinnlos, Martin«, murmelt er.

      »Holt die Leute zusammen«, befiehlt Hajek. »Was noch Beine und Arme hat – hierher, zu mir!«

      Und während hinter dem Trümmergrundstück Panzermotoren brüllen und Kanonenschläge krachen, versammeln sich etwa dreißig Mann um Hajek. Möglich, dass irgendwo noch ein paar leben, aber jetzt sind erst dreißig Mann da.

      »Ich übernehme die Kompanie«, sagt Hajek. »Wir müssen die Panzer erledigen. Handgranaten sammeln! Leute, wir haben ja noch jede Menge Handgranaten!« Er lacht heiser, boxt Reischach in die Seite und muntert ihn auf: »Los, alter Uhu! Wir haben unser Handwerk gelernt!«

      Die Leute kriegen wieder Mut. Reischach verschwindet mit sechs Mann zwischen den Trümmern. Hajek winkt den Rest zu sich, gibt kurze Instruktionen und läuft in Richtung der Hauptstraße.

      Dort kurven zwei T 34 und schießen wahllos in die Ruinen und wo immer sich etwas regt. Die Feindartillerie hat ihr Feuer jetzt zurückverlegt und bepflastert den Ostrand der Stadt, wo ein wilder Abwehrkampf gegen übersetzende Sturmboote im Gange ist. Zwei dieser Boote treiben kieloben flussab. Ertrinkende schreien, Arme recken sich hoch und verschwinden im lehmfarbenen Wasser.

      Hajek und drei Mann hasten durch die Schuttberge. Plötzlich sehen sie die Straße. Keine zehn Meter vor Hajek feuert ein T 34 auf den Marktplatz, von wo ein MG prasselt. Ein Bündel Handgranaten fliegt dem Panzer gegen die linke Seite. Sekunden später ein reißender Knall. Die Panzerkanone schweigt. Schwarzer Rauch qualmt aus den Ritzen. Jetzt eine mächtige Stichflamme, ein ohrenbetäubender Schlag. Der wievielte Panzer ist es, der erledigt ist? Niemand weiß es. Der andere T 34 macht mit einem wilden Ruck kehrt und wackelt mit brüllendem Motor zurück.

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