F. John-Ferrer

Wo sind sie geblieben


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seine Tasche.

      Hajek verspürt ein Würgen in der Kehle. Er schluckt es weg. Er nimmt Klotz’ Kopf in den Arm, streichelt ihm das blutverschmierte Haar aus der zerschossenen Stirn. »Martin«, ächzt der Sterbende, »bist du’s?«

      »Ja, ich bin bei dir, Hermann.« Und denkt: Stirb doch! Stirb doch schon! Das ist ja entsetzlich … das ist das Entsetzlichste, was ich in den vier elenden Jahren erlebte!

      »Er liegt … liegt draußen … in der Nähe der Bachmulde«, sagt Klotz mit verlöschender Stimme.

      Der Sani zieht eine Spritze auf. Er wechselt mit Hajek einen Blick. Hajek runzelt die Stirn, dann nickt er.

      »Komm, Kamerad«, murmelt der Sani und sticht die Nadel durch Mantel und Uniformtuch in den Oberarm des Sterbenden.

      Klotz liegt ganz ruhig. Er atmet stoßhaft. Das Blut rinnt und rinnt, und die Spritze wirkt so langsam.

      Das kreidige Licht ist erloschen. Ein MG fängt kurz und böse zu prasseln an. Stille folgt.

      »Martin …« Klotz spricht so leise, dass Hajek sich tief an den flüsternden Mund beugen muss. »Martin … hörst du mich?«

      »Ja, Hermann.«

      Klotz’ Hand krallt sich in Hajeks Arm. »Gib’s dem Kerl, Martin …« Klotz richtet sich zitternd auf. Er flüstert mit geschlossenen Augen. »Schreib du es der Elsa … mein Bub … du, der Bub …”

      Er sinkt mit einem matten Seufzer zurück.

      »Aus«, murmelt der Sani und packt die Spritze ein. Die Landser stehen stumm um den Toten. Sie weinen nicht, sie ahnen, dass das Sterben die Erlösung ist.

      Einer bleibt am MG zurück, die anderen tragen den Toten aus dem Bunker und legen ihn hinter der Ziegelei unter das überhängende Dach. Klotz liegt in einer Zeltbahn. Vom Dach tröpfelt es leise auf das steife Tuch.

      Drinnen, im Ofenraum, brennt die Stalllaterne. Die Männer reden nichts, setzen sich oder legen sich hin, doch sie können nicht schlafen. Hajek, steinern ruhig, hat das Püllchen wieder ins Sturmgepäck getan, schnürt es zusammen, verharrt ein paar Augenblicke in tiefem Nachdenken, steht dann auf und geht zum Fernsprecher.

      Das Surren des Apparates stört die Stille. Hajek wartet starr auf den Gegenruf. Dann kommt er.

      »Hier ist Dotterblume, Hajek. Klotz ist von einem Scharfschützen abgeschossen worden. Sprenggeschoss.«

      Am Drahtende bleibt es eine Weile still. Dann ertönt Warnickes heisere Stimme:

      »Der Klotz? – Tut mir leid. Wachsamkeit erhöhen, Hajek. Feind ist durch die Linie gesickert. Es müssen ein paar Russen vor unserer Stellung liegen.«

      »Möchte nachschauen, Herr Leutnant«, sagt Hajek.

      Die Landser heben die Köpfe und schauen erschrocken zu ihm auf.

      »Kommt nicht in Frage, Hajek«, ertönt es im Hörer. »Kommt nicht in Frage, hören Sie!«

      »Ich hab’s Klotz versprochen, Herr Leutnant.«

      Warnicke brüllt: »Nein! Sie bleiben bei Ihrem Zug! Das ist ein dienstlicher Befehl, Hajek, verstanden!«

      »Ich will den Burschen haben, der Klotz umgelegt hat, Herr Leutnant.«

      »Sind Sie taub?«, brüllt es im Apparat. Hajek hält den Hörer von sich weg. »Ich verbiete Ihnen, die Stellung zu verlassen und etwas auf eigene Faust zu unternehmen! Hören Sie, Hajek, ich verbiete es Ihnen!« Kurzes Schweigen. Dann Warnickes ruhige Stimme: »Lassen Sie das, Hajek, es ist zu dunkel, Sie erwischen den Kerl sowieso nicht. Außerdem könnten es mehrere sein.«

      »Dann warte ich bis zum Hellwerden, Herr Leutnant.«

      »Hajek, ich habe Ihnen einen dienstlichen Befehl erteilt, ist das klar?«

      Hajek legt den Hörer auf den Apparat. Sein steinernes, bartstoppeliges Gesicht verrät nichts. Er steht auf, überlegt kurz, geht in die Ecke, schnürt das Sturmgepäck noch einmal auf, reißt die kleine Kognakflasche heraus, schlägt ihr den Hals ab und trinkt. Der bräunliche Saft rinnt ihm in die dunklen Bartstoppel. Und dann – ganz plötzlich und mit einem wüsten Fluch – schleudert er die Flasche an die rötliche Lehmwand.

      Die Landser reagieren nicht. Sie wissen, was in Hajek vorgeht; er war mit Klotz sehr gut befreundet. Was Hajek jetzt vorhat – nun, davon kann ihn niemand zurückhalten. Auch Warnicke nicht.

      »Herr Feldwebel«, sagt einer, »es schneit jetzt.«

      Hajek nickt, zerrt das schmutzig-weiße Tarnhemd hervor und zieht es über; dann nimmt er vier Eierhandgranaten aus der Kiste und steckt sie ein, geht zur Wand, an der eine russische MPi hängt, schiebt ein Magazin ein und lädt durch. Der Sicherungsvorgang knackt wie ein Schuss durch die Stille.

      »Jungs«, sagt Hajek, am Ausgang stehend und jeden ansehend, »ich hab’s dem Hermann versprochen. Ihr wisst es doch, oder …?«

      »Ja, wir haben es gehört«, sagt Epel. »Kommen Sie gut zurück, Herr Feldwebel.«

      »Obergefreiter Ebner!«

      »Hier«, meldet sich die untersetzte Gestalt des Oberschnäpsers und nimmt, was er sonst selten tut, militärische Haltung an.

      »Sie übernehmen während meiner Abwesenheit den Zug.«

      »Geht in Ordnung, Herr Feldwebel.«

      »Komm mit«, murmelt Hajek und geht hinaus.

      Der Obergefreite folgt ihm wortlos.

      Nichts rührt sich draußen. Es schneit dünn. Die Flocken fallen in ihre Gesichter und werden zu Wasser.

      Mit raschen Schritten gehen sie zum MG-Stand, zwängen sich durch den schmalen Zugang, tappen die drei Erdstufen hinunter und treten an die Schießscharte.

      Lange starrt Hajek in das dunkle Vorfeld hinaus, in dem sich nichts rührt. Ganz weit drüben, auf der anderen Seite des Flusses, steigt eine gelbliche Leuchtkugel hoch, bleibt ein paar Augenblicke in der Luft hängen und verlischt dann.

      »Ebner, notfalls gibst du mir Feuerschutz«, sagt Hajek ruhig und nestelt an dem Tarnhemd, hängt sich die russische MPi um den Hals und schnallt den Stahlhelmriemen fester unterm Kinn.

      »Jawohl«, antwortet der Obergefreite. »Aber was soll ich dem Leutnant sagen, wenn er …«

      Hajek schneidet mit der Hand durch die Luft. »Ich muss den Kerl kriegen«, murmelt er. Dann huscht ein mattes Grinsen über sein Gesicht. »Du kannst Warnicke sagen, dass er gegen mich einen Tatbericht schreiben soll. Gehorsamsverweigerung oder so … Mir Wurscht, was er macht.« Er tritt noch einmal an die Schießscharte und späht hinaus ins Dunkel. »Bei der Bachmulde«, murmelt er und dreht sich um, nickt den beiden Landsern zu und verlässt den MG-Bunker.

      »Alles Gute, Herr Feld!«, ruft ihm einer der Landser nach.

      Ebner tritt zum MG, prüft den eingelegten Gurt und klappt den Verschlussdeckel leise zu.

      Der andere steht da und starrt auf die Blutlache am Erdboden. »Wir müssen das wegwischen«, sagt er mehr zu sich selber und scharrt mit, dem Fuß den dunklen Fleck in die Breite.

      Ebner schaut sich um. »Streu Erde drauf.«

      Hajek hat sich über den aufgeworfenen Erdwall abgerollt und liegt jetzt still. Er hält den Atem an. Hört aber nur dumpfes Sprechen, das aus der Erde zu kommen scheint. Es sind die Kameraden in den Bunkern, die leise miteinander reden.

      Das Gelände senkt sich dem Fluss zu, wird etwa zweihundert Meter weiter unten flach und geht in buschbewachsenes Moorland über. Niedrige Bodenwellen erstrecken sich bis zum Dnjepr, und ein Bach durchzieht das Gelände von Ost nach West. Büsche und Bäume wachsen verstreut, aber augenblicklich ist nichts weiter zu sehen als eine weiße Fläche, die sich sanft neigt.

      Hajek spürt nicht die Nässe, die seine Kleider ansaugt, spürt nicht die klamme Kälte der Nacht. Er liegt noch immer reglos und spannt die Sinne an.