F. John-Ferrer

Wo sind sie geblieben


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Es ist ein schwarzer Wurzelstock. Daneben bewegen sich ein paar Sträucher im Wind.

      »Du spinnst«, sagt der Unteroffizier. »Nischt zu sehen, mein Lieber. Wieder hundert Schuss zum Teufel, und wenn wirklich was los ist, dann ist der Bart ab.«

      »Mir war’s aber so, Herr Unteroffizier«, sagt Greimel und reibt sich die brennenden Augen. »Es kam mir so vor …«

      Es kam ihm so vor, dem Greimel. Die Nerven haben ihm einen Streich gespielt; man sieht überall den Feind heranschleichen, ihn sich irgendwo bewegen, einen dunklen Punkt über einem Grasbüschel auftauchen. Hinter jedem Strauch. Hinter jedem Baum. Zum Kotzen ist das! Mal ausruhen müsste man können. Schlafen. Eine Woche oder einen Monat schlafen! In einem Bett. Oder wenigstens in einem warmen Stall.

      Von Mund zu Mund geht es, dass Greimel sich geirrt habe.

      »Nischt, Kumpels! Nischt! – Hat wer ’ne Kippe für mich? – Mensch, wenn bloß die Nacht schon um wär …«

      Der Obergefreite Klotz lehnt neben dem zugedeckten MG und hustet. Der Zigarrenstummel ist schauderhaft stark. Aber besser den als gar nichts. Klotz sucht den vorhin abgerissenen Gedankenfaden und ist nicht mehr in Tscherkassy sondern daheim in Oberdorf, in der Pelzergasse, wo das kleine Haus im Garten steht. Und die Elsa hat das Kind auf dem Arm und wiegt es. Klotz möchte gern den Brief noch einmal lesen, den er in der Brusttasche trägt. Aber es ist schon dunkel, und die Taschenlampe anmachen – nein, lieber nicht. Nicht mal rauchen sollte man hier. Drüben lauern Scharfschützen. Sie sind unsichtbar. Sie lassen sich Zeit, bevor sie den Zeigefinger krümmen. Wehe dem, der den Kopf zu hoch über den Grabenrand hebt oder an der Schießscharte steht und eine Zigarette raucht. Vor vier Tagen erst hat man den Grenadier Schorschl Blenk mit einem Kopfschuss hinter die Ziegelei getragen und in das Lehmgrab gebettet. Ohne einen Mucks fiel der Schorschl hintenüber, den brennenden Zigarettenstummel noch im Mundwinkel, als das Herz stillstand.

      Vierzehn Gräber liegen im Windschatten der Ziegelei; nirgendwo anders lassen sich Gräber so mühelos ausheben wie hier am Stadtrand von Tscherkassy.

      Es ist also kein Wunder, wenn einem der Landser die Nerven durchgehen und ein schwarzer Wurzelstock vor der Stellung für einen russischen Scharfschützen gehalten wird. Besser einen MG-Gurt verballern als zu dösen, einzuschlafen und aufzuwachen, wenn der Iwan in der Stellung ist und Rabatz macht.

      Woher er kommt?

      Über den Fluss, dort, wo er am seichtesten ist. Der Feind sickert durch die mehr oder weniger großen Lücken ein, die der Verteidigungsring aufweist. Nachts kommen die Spezialisten herüber, den Fluss durchschwimmend, wie Marder durch die dünn besetzten Stellungen schleichend und im Flussgelände Verstecke findend, die das moorige, oftmals unzugängliche Flussgelände ausreichend bietet. Je dunkler die Nacht, je nebeliger der Tag, umso gefährlicher ist das Postenstehen und Aufpassen. Jede Nacht, wenn es still ist, wenn der Wind schläft, kann man irgendwo nördlich jäh aufflammenden Gefechtslärm, Schüsse, fernes Geschrei und Bauzen von Handgranaten hören. Man weiß dann, dass der Russe wieder irgendwo in eine deutsche Bunker- oder Verteidigungsstelle eingebrochen ist und die Kameraden mehr oder weniger hohe Verluste erlitten haben.

      Klotz raucht den Zigarrenstummel und steht seitlich neben dem MG. Er spitzt die Ohren und horcht hinaus ins sanft abfallende Vorgelände. Als er sich mit dem qualmenden Zigarrenstummel die Lippen verbrennt, ihn wegwirft und mit dem Fuß drauftritt, denkt er an das, was Elsa geschrieben hat. Ob ich vielleicht mal mit dem Leutnant rede? überlegt er. Wenn ich ihm den Brief zeige, wenn ich ihm sage, dass ich Vater geworden bin, und dass Elsa mit der Taufe warten will – ja nun, kann doch sein, dass der Leutnant den Urlaubswisch unterschreibt. Kann sein! Die Gedanken des Obergefreiten werden erneut unterbrochen; draußen ertönen Schritte. Eine steife Zeltbahn raschelt. Jemand kommt in den MG-Stand.

      Es ist der Feldwebel Martin Hajek, der die Posten seines Zuges kontrolliert. Hajek ist Jahrgang 1918, Hesse, in Frankfurt am Main zu Hause. In seinen Papieren steht, dass er ledig und von Beruf Heizer ist. Bevor er zum Militär einrückte, war er Angestellter der Frankfurter Stadtwerke. Er ist einer der wenigen, die den Kompaniestamm darstellen. Ein alter, bewährter Kämpfer! Man hat ihn bereits vor drei Jahren mit dem EK I dekoriert. Hinzugekommen sind inzwischen die rumänische Erinnerungsmedaille, die Nahkampfspange und das Verwundetenabzeichen in Silber. Seit dem letzten Nahkampf sind Hajek und Klotz miteinander befreundet und duzen sich. Klotz schlug einen Russen nieder, als dieser die Nagan auf Hajek richtete.

      Der Obergefreite meldet keine besonderen Vorkommnisse. »Was war nebenan los, Martin?«, fragt er.

      Hajek sagt mit rauer Stimme, ein Landser habe geschossen. »Greimel vom ersten Zug. Er hat wiedermal weiße Mäuse gesehen.«

      Er nähert sich vorsichtig der Schießscharte, hebt das Glas und schaut eine Weile ins Gelände hinaus. Der Obergefreite steht schweigend daneben.

      »Du hast Post von daheim bekommen, wie?«, fragt Hajek und schiebt das Glas unter die klamme Zeltbahn.

      »Ja.«

      »Gute Nachrichten?«

      »Bin Vater geworden, Martin.«

      Hajek schlägt ihm auf die Schulter. »Mensch, das erfahre ich erst jetzt?«

      »Ich wollte mich erst ’ne Weile ganz allein darüber freuen, Martin.«

      »Was ist es denn, Bub oder Mädl?«

      »Ein Bub. Acht Pfund und hundertzwanzig Gramm. Die Elsa hat bestimmt schwere Arbeit gehabt.«

      »Mensch, ich gratuliere dir!« Hajek schüttelt Klotz die Hand. »Darauf müssen wir einen heben, Hermann.«

      »Meine Ration ist alle«, sagt Klotz.

      »Dafür hab ich noch was!« Hajek lacht. »Ein Püllchen Dreistern. Dem schlagen wir den Kopf ab, das ist doch klar!«

      Sie reden eine Weile von dem Ereignis.

      »Wie schaut’s mit Urlaub aus?«, fragt Klotz dann.

      »Belämmert«, erwidert Hajek. »Der Alte lässt keinen weg. Und das ist irgendwie verständlich«, meine ich. »Wir sind wenig geworden, Hermann, jeder Mann wird doppelt gebraucht.«

      »Ja, schon«, brummt Klotz, »aber nicht jeder ist Vater geworden, Martin. Wenn ich demnächst eine verpasst kriegen sollte, ärgere ich mich schwarz, weil ich meinen Jungen nicht gesehen hab. Ich würde mich ja auch nicht vordrängeln, wenn ich schon drei oder vier Kinder hätte … aber ’s ist halt das erste, Martin, und da möchte man doch …« Klotz bricht ab.

      Draußen steigt auf der Feindseite eine gelbliche Leuchtkugel hoch.

      »Achtung!«, ertönt es halblaut links und rechts in den Stellungslöchern.

      Klotz stellt sich hinter das MG, nimmt die darüberliegende Zeltbahn weg und legt sie ohne Hast zusammen. Hajek steht daneben und späht angestrengt ins Vorfeld hinaus, das vom Feindlicht erhellt wird.

      »Was die bloß vorhaben«, murmelt er. »Ich fress ’n Besen, dass sich da was zusammenbraut.«

      Das Signallicht verlöscht. Die Dunkelheit gähnt wieder. Brennende Augen starren den grasigen Hang hinunter, der in Sumpf und dunkle Baumgruppen übergeht. Nichts regt sich. Auch die die feindliche Artillerie schweigt. Der Feind ist immer dann am gefährlichsten, wenn er schweigt. Hajek lehnt neben dem schussbereiten MG und sagt plötzlich: »Ich werde mal mit Warnicke reden, Hermann. Kann sein, dass ich ihn rumkriege. Du warst wann zuletzt daheim?«

      »Januar.«

      »Also vor knapp zehn Monaten«, murmelt Hajek.

      »Du willst es wirklich probieren?«, fragt Klotz. Seine Stimme klingt heiser vor Freude, denn er weiß, dass Hajek beim Alten eine gute Nummer ist. Was Hajek sagt, gilt etwas.

      »Ich werde es jedenfalls mal probieren«, sagt Hajek.

      Klotz tastet nach Hajeks Hand und drückt sie dankbar. »Mensch, wenn dir das gelingt, Hermann … wenn du wirklich ein paar Tage Urlaub für mich rausschinden könntest, dann …«

      »… tät’s