In seinem Hemd haben sich Schweißränder gebildet.
„Komm“, wispert die Riesin, aber die Kuh schnaubt wieder. Schüttelt den Kopf.
Josefs Hand, breit und kerbig, holt aus, will nach dem Leib des Tieres schlagen.
„Nicht!“, ruft die Riesin und fängt seine Hand gerade noch mit der ihren ab.
Josef stutzt. Wie stark seine Tochter ist! Gerade erst elf, weist sie schon mehr Kraft auf als er selbst! Er betrachtet die Tochter, wie sie da mit langgezogenem Gesicht, großen Kulleraugen und starkem Blick vor ihm steht, und muss mit einem Mal an seinen eigenen Vater denken. Auch der war ein Hüne gewesen. Ein großer, roter Riesiger. Ähnlich still und gutmütig wie seine Tochter, die sich da mit einem Mal so heldenhaft vor ihm aufbäumt.
„Geh, Vater, tu die Resi da weg, das ziehe ich hinauf“, hört er Maria nun sagen. Josef kann es kaum glauben. Aber dann nickt er, nickt und sieht, wie seine Tochter mit wackeren Schritten das Tier abschnallt und den Wagen über den knirschenden Kies zieht. Es knarrt und knattert.
Das Holz biegt sich, die Räder wollen sich nur langsam drehen. Da begreift Josef, dass das Kind die Kuh liebt. Und die Kuh sie: Mit treuherzigem Blick schreitet Resi hinter seiner Tochter drein, die sich nicht aufregt, die nur atmet, ein und aus. Regelmäßig und bedacht. Josef folgt der Tochter und der Kuh, und er kommt sich mit einem Mal sehr klein vor.
Als sie die nächste weite Ebene erreicht haben, seufzt Maria kurz auf. „Ich muss mich hinsetzen!“
Josef nickt, wischt sich den Schweiß aus dem schütteren Haar und betrachtet die Tochter. Maria schimpft nicht, stöhnt nicht, sie setzt sich bloß bedächtig unter einen Baum und streichelt die Flanken der Kuh, die ihr die Nase gegen die Wange stupst, beinahe zärtlich. Josef kann es nicht fassen. Und dann kommen Worte aus ihm, dem schweigsamen Vater. Worte, die Maria nicht mehr vergessen wird: „Gut hast das g’macht, mein Mädchen!“
7. Im Volksblatt
So verstreichen die Tage, und mit knapp zwölf Jahren misst Maria bereits nahezu zwei Meter. Die größte Frauensperson des Bezirks ist sie jetzt, und das geht freilich an keinem im Dorf vorüber.
„Die Moidl ist im Tiroler Volksblatt!“ So erscheint Rosa eines Tages im Frühling, ein großes Blatt Papier in der Hand, und strahlt über das ganze Gesicht.
Theresia, die gerade dabei ist, die Milch fürs Frühstück zu wärmen, blickt nur kurz auf. „Na, das war klar, nach all den Fremden, die immer schauen kommen und dich Mutterl nennen“, meint sie lapidar zu Maria, die innerlich ganz klein wird.
„Ist die Moidl jetzt ein Held?“, will Hansl wissen, während er mit großen Augen das Faltblatt betrachtet. Lesen kann er zwar noch nicht, aber dass es was Besonderes ist, wenn über einen geschrieben wird, das ist auch ihm nicht entgangen.
Der Riesin Maria ist es peinlich. Sie betrachtet die Milchhaut, die in ihrer Schale schwimmt, und ihr Blick klappt mehr und mehr nach innen. Nur schnell trinken und das Frühstück hinunterwürgen!, sagt sie sich.
Maria ist traurig. Aber nicht nur wegen des Volksblatts. Ein wenig mag sie den Pepi, der vor ihr auf der Schulbank sitzt. Sie denkt an ihn. Der Pepi hat große braune Augen und eine helle Haut. Samtig ist er und ein wenig kompakt. Und vor allem ganz und gar nicht groß. Wie ein Monster wirkt sie neben ihm, das weiß sie. Und dass sie eingesperrt ist; gefangen in einem viel zu großen Körper, der die anderen Kinder um mehrere Köpfe überragt. Sie schämt sich dafür, und sie mag die Schule nicht. Auch wenn sie ihre eigene Bank hat und man sie in Ruhe lässt.
Unglücklich ist Maria. Wenn sie in der Schule ist, blickt sie aus dem Fenster, summt unmerklich das Klingen des Windes mit. Und sie wartet. Darauf, wieder nach Hause zu dürfen. Dann hilft die Arbeit, das Umherhieven der Kübel, das Füttern der Kitzlein, das Scheren der Schafe.
Wenn aber die Nacht herankriecht, wird es ihr oft wieder unendlich bang. Sie merkt, wie sie immer größer wird. Ihr ganzer Körper beginnt gleichzeitig, fühliger und fühliger zu werden. Die Augen sind Fühler. Sie wollen den Pepi betrachten, aber der ist zu schön und Maria ein hässliches, in sich gekrümmtes Ding. Sie darf das nicht. Sie verbietet es sich, ihn anzusehen. Nur aus dem Fenster sehen ist gut. Wenn der Baum hinterm Haus blüht, erinnert er anpink gefärbte Wolken. Wer leben will, muss gewisse Gedanken ausblenden, das lernt die Riesin jetzt. Sie muss vergessen. Muss den Pepi vergessen. Sie kann es sich nicht erlauben, zu viel an ihn zu denken. Stattdessen sucht sie Trost bei der Gottesmutter. Maria faltet die Hände, sie betet: „Liebe Mutter, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm’!“
Der Puls hinter der Stirn ist wie ein Hammer, durchzuckt sie, scheint sie zu zersprengen, während sie sich in sich selbst hineinbiegen muss, innerlich. Sich ganz klein macht. Trotzdem ist ihr bang. In allem spürt sie ihre eigene Falschheit, spürt, dass sie einfach nicht richtig ist, nicht so wie die anderen.
Auf den Heimwegen von der Schule, weiß Maria, glänzen aber noch immer die Umrisse der Quelle, die hinter ihrem Haus liegt im frühen Licht. Wie damals, als sie klein war. Allein darin liegt der Friede. Sonst nichts.
8. Es geht weiter
Gar nichts tun kann Maria dagegen, dass es sich so aus ihr heraus wächst. Sie weiß, alle schauen. Sie weiß, alle wollen etwas von ihr, als gäbe ihr übergroßer Körper Antworten auf irgendwelche Fragen. Sie ist doch bloß ein Schulkind! Das singen will, träumen und ein wenig den Pepi lieben, so ganz geheim. Aber auch der hat irgendwie Angst vor ihr, betrachtet sie immer nur mit viel zu großen Augen.
Doch das macht ihr nichts mehr aus, nach außen hin. Denn das Leben geht weiter. Der Alltag. Die Arbeiten zu Hause und auf dem Feld, die Maria mit Geschick verrichtet; das brauchen die Eltern, weiß Maria Bescheid. Sie haben nämlich wenig Geld, und da heißt es, sie brav zu unterstützen! Auch das Lernen betreibt die Riesin weiterhin. Auch das muss so sein.
Zumindest gibt es im Winter einen Monat, der sie erfreut. Dezember heißt er. Denn da ist Nikolaus und auch Weihnachten.
Doch bevor es so weit ist, dürfen sie in diesem Jahr einmal ausnahmsweise Onkel Beppo besuchen, der Koch in der großen Stadt Wien ist. Und: Wien ist magisch. Das wurde ihr erzählt, und das darf sie jetzt selbst erleben. Denn überall stehen sie, diese besonderen Läden. Sowohl um St. Stephan herum als auch in den Vorstädten. Es sind Zelte von Zauberern.
Und als sie ankommen in der großen Stadt, schimmert es bereits überall in scharlachroter Glut, im Zittern der flackernden Kienspäne im Licht. Blasse, offene Kerzen. Backwerk duftet Maria entgegen, ja, es türmt sich hier in diesen Bretterbuden auf, ist Gebirge, das man in den buntesten schillernden Farben verziert hat.
„Gefallen dir die Lebzelten?“, fragt Theresia, und Maria nickt.
Gierig saugt sie den Geruch von zarten Gewürzen ein, wieder und wieder. Der Anblick von verkleideten Nikoläusen, die mit Rauschebärten umherstreifen, vermischt sich mit denen von Wachslichtern und Tannenbäumen, und die Welt ist vermengt mit Staunen.
Abends, wenn Maria die Petroleumlampe an ihrem Bett anzündet, schimmert dieses Staunen noch weiter, und in Maria gehen dann Welten auf. Die Sehnsucht beginnt in ihr zu flammen, sie denkt kurz an die weite Welt, an das Singen, und ob es nicht vielleicht doch noch etwas zu entdecken gibt!
Doch bald wird sie wieder zu Hause sein, der Ausflug in die Stadt ist kurz und der Alltag hat mehr Gewicht, weiß die Riesin, und sie schiebt ihre Sehnsüchte wieder fort, genau wie die Gedanken an den Pepi. Denn alles geht irgendwie weiter.
9. Pfarrer Engl
Wie seltsam, denkt Maria, dass ich jedes Jahr älter werde! Zeit ist etwas, das sie nicht begreift. Noch ist sie innerlich klein und liebt wie jedes Kind die Wiederkehr, und dazu gehören diese Weihnachtsrituale, genau wie das Beten gegen Abend. Sie machen das Herz froh. Die Zweige der kahlen Bäume im Hinterhof ächzen, als man nach Hause zurückkehrt.
Der kleine