>Einmal hat mich die Frau angerufen. Ich musste mich beeilen. Ich sollte sie in Tildrizfelden in der Schweiz treffen. Ich war so durcheinander. Ich vergaß, dass ich dringend tanken musste. Direkt hinter der Grenze, leuchtete schon das rote Lämpchen auf. Langsam war mir sowieso alles egal. Ich fuhr die nächste Tankstelle an. Ich wollte nur noch nach Tildrizfelden.<
„Nein!“
„Was, nein!“
„Sandra, ich komme mir irgendwie komisch vor. Ich möchte, dass wir das jetzt lassen.“
Sandra sah mich entgeistert an: „Bist du total durchgeknallt? Jetzt wird’s doch erst richtig spannend. Wieso tankt dein Vater plötzlich in der Schweiz?“
„Ich weiß es nicht. Ist mir auch egal. Bitte!“
„Na, du bist witzig! Erst jammerst du rum. Dann will ich dir helfen und jetzt so was.“
Sandra hatte kein Verständnis für meinen Sinneswandel. Ich wusste auch nicht, was mit mir los war. Es war nur so ein Gefühl.
5. Kapitel
Wo sich nichts tut, außer dass sich eine Wand aufbaut zwischen Papa und mir
Die nächsten Wochen verliefen in seltsamer Trägheit. Sandra sprach das Thema „Hinter-meinem-Vater-herspionieren“ nicht mehr an. Sie interessierte sich im Moment nur für die kommenden Fasnachtstage.
Henning beachtete mich kaum und die Mathe-Arbeit hatte ich verhauen. Die nächste Arbeit musste mindestens eine gute Drei werden.
Morgens war es draußen verhangen und kalt. Und wenn sich gegen Mittag die Nebelsuppe gelichtet hatte und die Sonne ein bisschen schien, wurde es auch schon bald wieder dunkel. Der See schimmerte traurig-grau und ich bewegte mich noch weniger als sonst. Statt abzunehmen, hatte ich schon wieder ein Kilo zugenommen. Meine Mutter arbeitete viel und mein Vater lag viel auf der Couch. Manchmal war er unterwegs zum Lebensmitteleinkaufen oder um Medikamente in der Apotheke zu holen. Er konnte fast eine ganze Stunde auf dem Sofa sitzen, sich die Oberschenkel und Schienbeine massieren und vor sich hinstarren. Wenn ich oder Mama ihn fragten, ob er Schmerzen habe, ob wir ihm irgendwie helfen könnten, antwortete er nur widerwillig. Manchmal verzog er das Gesicht, stöhnte auf und ließ sich nach hinten auf das Sofa kippen. Dort blieb er dann eine ganze Weile, wie ein auf den Rücken gefallener Kartoffelkäfer liegen, schien sich nur auf seine Atmung zu konzentrieren und nahm uns nicht mehr wahr.
Manchmal ging er spazieren, um seine Beinmuskeln zu trainieren, behauptete er. Sicher traf er heimlich seine komische Freundin.
Ich hatte mich nicht mehr getraut, das Thema anzusprechen. Es schien, je mehr wir schwiegen, desto unrealer wurde die ganze Situation. Zwischen meinem Vater und mir hatte sich eine unsichtbare Wand aufgebaut. Ich spürte kaum noch die Vertrautheit und Nähe, die uns früher so verbunden hatte. Und doch war da etwas anderes. Manchmal blickte ich ihn an und versuchte, in seinen Augen zu lesen. Doch für das, was ich sah, kannte ich keine Worte. Es verwirrte mich nur.
6. Kapitel
Wo ich Angst um meinen Vater kriege und ihm doch noch hinterherspioniere
Eines Nachts wachte ich von meinem eigenen Zähneknirschen auf. Ich hatte geträumt, Papa und Anita säßen zusammen in dem roten Mazda MX 6, der Anitas Freund gehörte. Anita war mir egal, aber ich spürte, dass mein Vater in Gefahr war. Ich rannte hinter dem Auto her. Doch jedes Mal, wenn ich es gerade erreicht hatte und die Seitentüre aufreißen wollte, drückte Anita aufs Gaspedal und der Wagen raste davon. Im kleinen Rückfenster sah ich gerade noch, dass Henning mich gemein angrinste. Ich schrie nach meinem Vater, aber meine Kiefer waren verklemmt. Ich konnte den Mund nicht öffnen.
Zitternd wachte ich auf. Die Straßenlaterne warf ein fahles Licht in den hinteren Teil meines Zimmers. Ich tastete nach der kleinen Taschenlampe, die ich immer auf dem Nachttisch liegen hatte. Ich knipste sie an und richtete mich auf. Ich atmete tief durch, massierte meine schmerzende Kaumuskulatur und setzte meine Knirscherschiene wieder ein.
Papa ist in Gefahr, dachte ich. Papa will mir etwas sagen. Immer öfter hatte ich in letzter Zeit das Gefühl, als ersetzten seine Gedanken seine Worte. Als spinne sich durch die unsichtbare Wand hindurch eine andere Art Verbindung, als suchten mich seine Gedanken.
Vielleicht hätte ich vor ein paar Wochen doch mit Sandra weiter Detektivin spielen sollen. Ich wusste überhaupt nicht mehr, was richtig oder falsch war.
Ich saß im Bett und merkte, wie mir schlecht wurde. Heute hatte ich extrem wenig gegessen. Ich beschloss, mir einen kleinen Pudding aus der Küche zu holen und bei der Gelegenheit vielleicht doch noch mal in Papas Jackentaschen zu schauen.
Leise öffnete ich meine Zimmertüre. Im schwachen Schein der Taschenlampe schlich ich den Flur entlang, die Treppe hinunter. Das lackierte Holz des Geländers fühlte sich glatt und kalt an.
Fröstelnd stand ich vor der Garderobe. Jetzt hatte ich alle Jacken meines Vaters zur Verfügung: das Jackett, den Parka und die Lederjacke. Blitzschnell durchfuhr meine Hand alle Taschen und grabschte, was sie grabschen konnte. Allerlei Kleinkram hatte ich nun in der Hand. Die Taschenlampe hatte ich aus Vorsicht ausgeknipst. Blind versuchte ich zu sortieren: Zettel, Zettel, Kaugummi, Portemonnaie, Brille …
Brille und Kaugummi tat ich zurück, das Portemonnaie und die Zettel nahm ich mit in die Küche. Bei Schokoladenpudding mit Sahne durchsuchte ich nun zum zweiten Male innerhalb weniger Wochen die persönlichen Gegenstände meines Vaters ...
7. Kapitel
Wo Papa mir das Herz bricht und Julian nicht merkt, dass ich in seinem Bett schlafe
Leise schlich ich die Treppe wieder hinauf. Als ich die letzte Treppenstufe erreicht hatte, durchfuhr mich ein Mordsschreck: Ich hörte Geräusche aus der Toilette. Die Klotür stand offen. Da sah ich meinen Vater. Er saß auf der Kloschüssel. Sein Oberkörper wankte vor und zurück. Hatte er etwas bemerkt? Verlegen grinste er mich an. Er war total betrunken.
„Ich kann nicht pinkeln, mein Bärchen“, lallte er. „Dein Papa kann vor Schmerzen fast nicht mehr laufen und kann nicht mal mehr pinkeln. Hicks ... ein richtiger Nichtsnutz, ein echter Loser, dein Vater, kein Mann. Nicht laufen, nicht pinkeln, nicht ...“
Rasch stieß ich die Klotür zu. Ich hastete zurück in mein Zimmer, zerknüllte den Zettel, den ich bei Papas Sachen gefunden hatte, und warf ihn in die Ecke. Meinen Sportbeutel warf ich dazu.
Ich hockte mich auf die Bettkante und begann zu heulen. Ich schaltete das Radio ein: „I don’t wanna know…“, sang Mario. Im Hintergrund rappte P. Diddy. Ich drehte etwas lauter und schluchzte vor mich hin.
Nach einer Weile fiel mir ein, dass Julian nachts manchmal aufs Klo musste. Ich wollte nicht, dass er unseren Vater in diesem Zustand sähe. Ich stellte das Radio aus und putzte mir die Nase. Als ich an der geschlossenen Klotür vorbeischlich, hörte ich, dass Papa drinnen ganz laut weinte. Es brach mir das Herz.
Julian lag zusammengerollt auf der Seite. Im Lichtkegel der Taschenlampe sah ich, dass er die Zudecke fest um seinen Körper gewickelt hatte.
„Julian“, flüsterte ich, „Julian.“
Vorsichtig zerrte ich ein Stück Decke unter seinem Körper vor. Er murmelte irgendetwas.
„Darf ich mich zu dir legen?“
Wieder murmelte er Unverständliches. Er klang ja fast wie sein lallender Vater auf der Kloschüssel. Jetzt musste ich doch grinsen. Ich legte mich neben meinen Bruder, zog die Zudecke um uns beide und schmiegte mich eng an seinen Rücken.
„Alles wird gut, kleiner Bruder“, sagte ich leise und atmete den Kinderduft seines Nackens. Ich spürte, dass er schlaftrunken nickte. Durch einen Schlitz der geschlossenen Vorhänge ahnte ich das Morgengrauen.
8. Kapitel
Wo ich Papa mal vergessen kann und mich bewege wie Rosé
Beim