zu besorgen. Aber sie selbst half auch gerne aus. Und das Netteste war: Wenn sie lachte, zogen sich ihre Wangen nach oben und die Nase kräuselte sich, sodass sie aussah wie eine Katze. Und sie sah oft aus wie eine Katze.
„Kommst du mal bitte, Julian!“, rief meine Mutter aus dem Flur. „Anton ist am Apparat.“
Julian sprang auf und rannte in den Flur. Für wenige Augenblicke saß ich mit meinem Vater allein am Küchentisch. Ich hörte, wie Mama im Flur Julian einschärfte, es kurz zu machen und seine Freunde in Zukunft darauf hinzuweisen, dass wir beim Essen das Telefon nicht abnähmen. Sie schien neben ihm stehen zu bleiben.
Ich ging zum Frontalangriff über: „Paps“, fragte ich und beobachtete jede Regung in seinem Gesicht, „wer ist da eigentlich am Montag neben dir in unserem Auto gesessen, als du mich am Bahnhof hast stehen lassen?“
Papa schreckte wie aus tiefen Gedanken auf. „Wie, was sagst du?“ Er legte die Gabel am Tellerrand ab, riss sich ein Papiertuch von der Küchenrolle und tupfte sich die Lippen. „Was sagst du da, mein Bärchen?“
Ernst blickte er mir in die Augen.
Wann hatte er mich das letzte Mal Bärchen genannt? Sah ich Ertappt-fühlen, sah ich Verrat? Ich blickte in hellbraune Augen. Mir fiel auf, dass die dunklen Augen meines Vaters bernsteinfarben geworden waren. Lag das am Alter? Ich hatte seine Augen geerbt, während Julians Augen die helle, leicht grünliche Farbe meiner Mutter hatten. Als kleines Kind hatte ich geglaubt, man sähe die Welt durch unterschiedliche Augenfarben unterschiedlich gefärbt.
Inzwischen vermutete ich, dass frühkindliche Depressionen mich die Welt so dunkel sehen ließen. Mein kleiner Bruder hatte ein sonniges Gemüt.
„Du hast mich am Bahnhof stehen lassen!“, sagte ich vorwurfsvoll. „Ich bin dir noch hinterher gerannt und in unserem Auto saß eine fremde Frau!“
Die letzten Worte sagte ich ganz schnell. Ein bisschen peinlich war es mir schon.
„Wo standest du, Kind?“
„Das war am Bahnhof. Du musstest vor der Ampel warten. Ich bin zwischen den stehenden Autos zu dir hingerannt. Ich hatte dich fast erreicht, da bist du losgefahren. Und neben dir saß eine Frau“, beharrte ich. Nun sag doch schon, dass es ein Mann war, dachte ich, bitte!
„Tilda, was fällt dir eigentlich ein, in der Dämmerung mitten auf der Straße herumzuspringen? Weißt du nicht, wie gefährlich das ist?“, schimpfte mein Vater plötzlich.
„Du hättest angefahren werden können. Wahrscheinlich hast du auch noch deinen dunklen Mantel getragen! Ich hab dich für vernünftiger gehalten!“
„Paps!“
Meine Mutter und Julian kamen in die Küche zurück. Sie sahen uns fragend an. Julian angelte verlegen nach einem Pizzastück.
„Für Julian ist das kein gutes Vorbild! Julian“, Papas Stimme klang streng, „hast du gehört, was deine Schwester da macht? Sie meint, sie hätte mich mit dem Wagen an der Ampel stehen sehen und turnt zwischen haltenden Autos in der Dunkelheit herum. So was ist absolut verboten! Hast du mich verstanden?“
Mein Bruder nickte brav, sah mich triumphierend an und nahm sich auch noch das letzte Pizzastück mit Ananas vom Blech.
Jetzt wandte sich mein Vater wieder mir zu: „Und dir verbiete ich in Zukunft, einen solchen Unsinn zu veranstalten! Hast auch du mich verstanden?“
„Paps, ich ...“
„Ob du mich verstanden hast?!“
„Paps!“
„Ich hatte dich etwas gefragt, mein Fräulein?“
War mein Vater jetzt völlig durchgeknallt? Aus welchem Jahrhundert stammte der eigentlich?
„Ja, mein Herrlein!“, schnippte ich, stieß meinen Stuhl zurück und verließ wutschnaubend die idyllische Abendessenrunde.
„Jetzt werd bloß noch frech!“, hörte ich ihn rufen, als ich die schmale Holztreppe zu meinem Zimmer hinaufstieg.
Zum Glück wurde ich nicht zum Abendessen zurückgerufen. Nach einer Weile schlich ich die Treppe wieder hinunter. Das Telefon war an der Wand direkt gegenüber dem Treppenabsatz angebracht. Dies war eine der Maßnahmen meiner Eltern, Geld zu sparen. Es war so ungemütlich, dort im Stehen zu telefonieren, dass die Gespräche nur von entsprechend kurzer Dauer sein konnten. Die Schnur reichte nicht einmal bis zur Treppe, wo man es sich wenigstens auf einer Stufe hätte bequem machen können. Ich hasste die Knauserigkeit meiner Eltern: Haus bauen, aber keine Kohle haben.
Wenn ich erwachsen wäre, würde ich mir eine großzügig eingerichtete, geräumige Wohnung in einem Hochhaus mieten, mit Blick über die Stadt und in jedem Zimmer ein Telefon.
Der Gedanke an meine baldige Zukunft ohne meine Eltern stimmte mich wieder etwas milder. Trotzdem wählte ich Sandras Nummer.
Wir vereinbarten, dass sie zu mir käme. Kurz bevor sie vor der Tür stünde, würde sie mein Handy kurz klingeln lassen, damit ich ihr öffnen könne. Meinen Eltern mussten nicht mitkriegen, dass ich Besuch bekäme.
„Und vergiss die Zigaretten nicht!“, zischte ich noch in den Hörer.
Aus der Küche hörte ich, wie der Tisch abgeräumt wurde und Papa mit Julian sprach. Wahrscheinlich schleimte mein kleiner Bruder sich jetzt wieder so richtig ein.
Eine halbe Stunde später saßen Sandra und ich vor meinem geschlossenen Fenster und rauchten gemütlich eine Zigarette.
Das geschlossene Fenster war ein Racheakt gegen meine Eltern: Eigentlich waren sie dagegen, dass ich überhaupt rauchte. Aber ich hatte ihnen erklärt, dass es doch besser für sie wäre, wenn ich nicht heimlich rauchen würde. Das hatten sie eingesehen und seitdem durfte ich notgedrungen in meinem Zimmer aus dem geöffneten Fenster nach draußen rauchen.
Sandra fand das Verhalten meines Vaters nicht ungewöhnlich. Es zeige eindeutig, dass er eine Freundin habe. Es sei ganz typisch für Männer, dass die zum Angriff übergingen, wenn sie sich ertappt fühlten.
„Wahrscheinlich ist seine Geliebte einige Jahre jünger als deine Mutter. Die hat ja wohl noch nichts gemerkt, oder?“
Ich vermutete das auch.
„Tja“, Sandra sog genüsslich an ihrer Zigarette, „deine Mutter scheint genauso naiv zu sein wie du.“
Dass Sandra so von meiner Mutter sprach, war mir unangenehm. Außerdem war ich auf keinen Fall naiv, protestierte ich.
„Weißt du nicht mehr, wie du die Geschichte mit Anitas Lover geglaubt hast?“ Sandra begann zu kichern.
Gut, gut, das war schon sehr peinlich gewesen: Anita war die Klassenschönste und -beste. Seit einiger Zeit trug sie ein dezentes Silberkettchen mit einem kleinen Anhänger. Den Anhänger hatte sie mir schon hundertmal gezeigt. „In Love Fredi“ war darauf eingraviert. Ich kannte Fredi nicht, aber Fredi war wohl 19 Jahre alt und ihr Lover, wie sie es nannte. Fredi trug angeblich das gleiche Kettchen mit ihrem Namen eingraviert. Anita bildete sich wahnsinnig was darauf ein, dass ihr Fredi einen roten Mazda MX 6 fuhr. Immer wieder erzählte sie mir von tollen Fahrten in die Disko und in die Berge.
„Ich will gar nicht wissen, wie die Sex auf der engen Rückbank haben“, hatte Sandra mal mit Kennermiene sinniert.
„Meinst du, die nimmt die Pille, oder so?“, hatte ich gefragt.
Sandra hatte kaum gezögert: „Spinnst du?“, hatte sie ausgerufen. „Die behält beim Sex bestimmt ihre Strumpfhose an!“
„Meinst du?“, hatte ich gezweifelt.
„Klar! Die ist doch auf dem Naturtrip.“
Sandra hatte gebrüllt vor Lachen, als sie merkte, dass ich es ihr glaubte und mir die Details vorzustellen versuchte.
„Hätte doch sein können“, maulte ich, als Sandra schon wieder so blöd grinste.
„Vermutlich