zu ihr hin und sagst: Anita, darf ich Stiefmama zu dir sagen?!“ Sie hielt sich den Bauch und japste nach Luft.
Ich konnte nicht so mitlachen; bisher hatte ich meinen Vater immer anders als andere Männer gesehen. Und Papa mit einem jungen Mädchen konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen.
Ich sagte es Sandra, aber die lächelte nur böse. Sie hatte eine Flasche Bier mitgebracht und nahm nun einen kräftigen Schluck daraus. Sie sah mich groß an: „Ich glaube, wir beide kriegen nie einen ab. Ich bin zu kritisch und du zu gutgläubig.“
Sie strich sich ihre dünnen, blonden Strähnen aus dem schmalen Gesichtchen. Ich musste lachen: Sie sah so jung und durchsichtig aus, aber sie sprach wie eine Sorgentante aus dem Fernsehen.
Es klopfte an der Zimmertür. Mutters dunkler Schopf tauchte um die Ecke auf. Sie linste in mein Zimmer hinein und ihre Augen schienen von dem Haufen schmutziger Wäsche auf dem Schreibtisch magisch angezogen zu werden. Dann kroch ihr Blick zum umgekippten Mülleimer auf dem Fußboden, bis zur Zigarettenkippe zwischen meinen Fingern. Ich nahm einen Zug und blies den Rauch lässig in ihre Richtung.
Na, kriegst du auch alles schön mit, dachte ich boshaft. Du solltest mal besser mitkriegen, was dein Mann so treibt.
Innerlich zählte ich einen Countdown: fünf ... vier ... drei ... zwei ... eins:
„Wenn ihr schon rauchen musst, musst ihr das dann unbedingt vor dem verschlossenen Fenster machen?“, kritisierte meine Mutter.
„Müsst, Mama“, korrigierte ich Mamas walisischenglischen Akzent. Immer, wenn meine Mutter aufgeregt war, verwechselte sie Ü und U. „Das heißt müsst, nicht musst. Ich muss, du musst, er, sie, es muss, wir müssen, ihr müsst, sie müssen. Ich glaub ich muss mal!“
Sandra gluckste.
Meine Mutter ging nicht darauf ein. Sie hatte heute keinen Sinn für Humor: „Sag mal, kannst du nicht einmal aufräumen?! Vor allem, wenn du Gäste hast, könntest du doch wenigsten deinen Ünrat entfernen. Ich finde es langsam ünerträglich.“
Dein Mann betrügt dich und für dich gibt es nichts Wichtigeres, als die Unordnung in meinem Zimmer, dachte ich wütend.
„Wenigstens den Mulleimer könntest du aufrecht hinstellen“, fuhr meine Mutter fort. Ich korrigierte sie jetzt lieber nicht. „Das ist absolüt ünhygienisch. Dass dir das vor deiner Freundin nicht peinlich ist!“
Genau diesen Ausdruck konnte ich genau jetzt überhaupt nicht vertragen: „Du bist diejenige, die peinlich ist“, zischte ich. „Geh raus aus meinem Zimmer! Raus!“
Meine Mutter sah mich einen Augenblick verdutzt, dann verletzt an. „Das ist ünser Haus!“, sagte sie scharf. Ich spürte, wie sie versuchte sich zu beherrschen und mich am liebsten angeschrien hätte.
„Schrei mich nicht an!“, brüllte ich.
„Ich schrei dich nicht an!“ Ihre Stimme wurde lauter.
„Ich spreke nür lauter.“
„Na, klar! Du hast mich überhaupt nicht angeschrien, nein, gar nicht“, provozierte ich. „Hat meine Mutter mich angeschrien, ja oder nein?“
Herausfordernd blickte ich Sandra an. Sandra zwirbelte sich verlegen eine ihrer langen, dünnen Strähnen um den Zeigefinger und blickte hilflos zwischen Mama und mir hin und her. Sie sagte nichts.
„Feigling“, zischte ich.
Meine Mutter spürte wohl, dass es besser war, hier abzubrechen. Sie drehte sich um und verließ das Zimmer.
Als Sandra gegangen war und ich meine Entspannungsübungen gemacht hatte, schlief ich sofort ein, träumte aber unruhig.
>Eigentlich hatte deine Mutter an diesem Abend mit dir über mich reden wollen, doch nach dieser verletzenden Vorstellung vor deiner Freundin hörte ich sie schwer die Treppe hinuntersteigen. Ich saß noch im Wohnzimmer vor dem Fernseher und schaute mir die Nachrichten an. Deine Mutter setzte sich neben mich aufs Sofa. Ich legte den Arm um sie. „Kannst du Tilda nicht fragen, ob sie Lust hat, die Nachrichten mit uns anzuschauen. Ich fände das so wichtig, dass die Kinder mitkriegen, was in der Welt los ist“, sagte ich, nur um irgendetwas zu sagen.
„Ich wollte gerade mit ihr reden, aber ich hab so einen Krach mit ihr bekommen. Ich möchte sie im Moment nicht sehen. Und ihr Zimmer sieht mal wieder furchtbar aus. Außerdem musstest du eigentlich mit ihr reden“, fügte deine Mutter noch hinzu und sah mich von der Seite an.
Ich nickte.
Wenn ich nicht diese Schmerzen in den Beinen gehabt hätte, wäre ich jetzt schnell zu dir hinaufgesprungen und hätte einen Anfang gemacht. Wenigstens einen Anfang. Dass du die Frau in unserm Auto gesehen hast, hat mich erschreckt. Ich wollte es dir auch erklären, aber noch nicht. Ich hatte Angst. Ich wusste nicht, wie du reagieren würdest. So schauten deine Mutter und ich noch eine Weile fern sehen.
Später an diesem Abend befiel mich eine tiefe Traurigkeit. Ich glaube nicht, dass du etwas ahntest. Du warst an
diesem Abend so sehr mit deiner Freundin Sandra und deiner Enttäuschung mit mir beschäftigt, dass dich nichts anderes erreicht hätte. Deine Mutter und ich waren zu erschöpft, um uns noch weiter mit dir auseinanderzusetzen. Wir waren zu erschöpft, um miteinander zu reden. Wir hatten beide Angst und trauten uns nicht, es uns einzugestehen.<
3. Kapitel
Wo ich von Neandertalern träume und Sandra meinem Vater hinterher spionieren will
Am Sonntag hatte es wieder heftig zu schneien begonnen und mein Vater machte einen auf Familie. Wahrscheinlich hatte seine Mätresse keine Zeit.
Ob die wohl verheiratet war, ob sie Kinder hatte, überlegte ich. Aber wenn sie so jung war, wie Sandra annahm, konnte sie höchstens ein Baby haben. Ich spürte, wie neben meinen kleinen, grauen Hirnzellen, auch die Schweißdrüsen in meinen Achselhöhlen zu arbeiten begannen: Womöglich hatte mein blöder Vater dieser Zicke auch noch ein Kind gemacht. Mit oder ohne Strumpfhosen. Ein Halb-Geschwisterchen von Anita!
„Ich passe nicht auf euer Monsterbaby auf, das sag ich euch gleich!“, entfuhr es mir wütend. Julian sah mich verwirrt an.
„Was sagst du, Tilda?“ Papa blickte irritiert zu mir hinüber.
Wir hockten alle um den niedrigen Wohnzimmertisch. Unsere Knie stießen an die Tischkante. Mein Vater wollte doch tatsächlich Gesellschaftsspiele mit uns veranstalten, wie vor fünf oder sechs Jahren noch! Julian hatte begeistert verknitterte Quartettkarten aus seinem Zimmer geholt, auf denen die Helden seiner Lieblingsserie Star Wars abgebildet waren. Nur meiner Mutter zu Liebe machte ich diesen Schrott mit. Sie spürte, wie gerne ich mich zurückgezogen hätte, und warf mir bittende Blicke zu. Angewidert hielt ich die von neunjährigen Kinderpfoten versifften Karten zwischen spitzen Fingern. Meine Eltern ignorierten es.
Am nächsten Morgen hätte ich fast meinen Bus verpasst. Ich wollte gerade das Haus verlassen, da fiel mir ein, dass wir heute eine Mathe-Arbeit schreiben würden. Weder hatte ich mich vorbereitet, noch konnte ich mein MatheBuch jetzt finden. Nur wegen dieser dämlichen Quartettspiele! Ich wusste, dass das nicht stimmte. Ich hatte die Arbeit ganz einfach vergessen. Aber trotzdem!
Auf keinen Fall wollte ich jedoch meine zickige Banknachbarin Anita um Einblick in eines ihrer sauber eingebundenen Heiligtümer bitten.
„Wer suchet, der findet“, murmelte ich daher bissig. Wie immer, wenn ich knapp dran war, huschte meine
Mutter wie ein aufgescheuchtes Huhn von der Küche in den Flur hin und her.
„Dass du auch nie einen fester Platz für deine Schülbucher hast“, zeterte sie.
Ich suchte und fand das Buch schließlich unter meinen Klamotten unterm Bett.
Als ich an Mama vorbei auf die Straße schoss, sah ich aus den Augenwinkeln meinen Vater im Wohnzimmer auf der Couch liegen. Wie lange spielte der eigentlich noch den Kranken? Seit einigen Wochen hatte ich ihn nicht mehr am Schreibtisch