machen. Ich meinte Papas ernste Augen im Rückspiegel erkennen zu können. Sah er mich? Der Wagen fuhr an.
„Papa!“, brüllte ich, „Halt! Wartet! Mama!“
Jemand hupte hinter mir. Der Astra meiner Eltern fuhr ganz plötzlich und ganz rasch davon.
Ich war so sauer, dass ich den Rest meines Hamburgers in den Schneematsch warf.
„Scheiße!“, schrie ich, „verdammte Scheiße!“
Meine Armbanduhr zeigte 18.30 Uhr. Noch eine viertel Stunde, bis mein Bus kommen würde. Meine Bank an der Bushaltestelle war noch frei. Ich setzte mich und fror beleidigt vor mich hin.
Als ich später in die Straße einbog, in der wir lebten, war es dunkel geworden. Missmutig stapfte ich durch den frischen Schnee. Auf dem Wendeplatz, dort, wo meine Eltern unser Auto immer abstellten, wartete einsam der schwarze VW-Käfer unserer Nachbarin auf Gesellschaft. Ich schloss die Wohnungstüre auf.
„Mama!“, rief ich aus Gewohnheit. „Papa!“
Es war still. Doch es duftete nach gebackenem Käse und Spinat und im oberen Stockwerk schimmerte Licht.
„Julian!“, rief ich.
Mein kleiner Bruder tobte sich sicher mit seinem Freund Anton an einem Computerspiel aus. Das ungehemmte Lachen aus vollem Halse - typisch vorpubertäre Jungs - schallte jetzt von oben herab durch den Flur. Die Küchentür öffnete sich. Mamas kräftige Statur erschien im Türrahmen. Mama band sich die Küchenschürze ab und fuhr sich mit bemehlten Fingern durchs Haar. Der weiße Staub hinterließ feine Spuren auf ihren halblangen, dunkelbraunen Locken. Sie war nicht beim Friseur gewesen.
„Du, du, du bist ja da?!“, stotterte ich. Mein Rucksack plumpste beim Flurspiegel auf den Linoleumfußboden.
Wo war Papa, fragte ich mich. Und vor allem: Wer war die Frau neben ihm gewesen?
Meine Mutter lächelte: „Gleich gibt’s was Leckeres. Ich hab gefüllten Blätterteig im Ofen. Wie war’s in der Schule? Wie war’s beim Zahnarzt?“
Ich sagte meiner Mutter nichts von der anderen Frau in unserem Auto. Aber mein Vater, hatte mein Vater mich erkannt?
Ich verzog mich in mein Zimmer, um mir die Broschüre über das autogene Training anzuschauen. Ich legte mich aufs Bett und fühlte mich laut Anweisung aus dem grünen Heftchen ganz schwer. Klar fühle ich mich schwer, dachte ich, ich bin schwer.
>Ich hatte dich erkannt. Jemand hupte hinter mir, ich sah dein aufgeregtes Gesicht im Rückspiegel. Ich befürchtete, dass du die Frau auch gesehen haben könntest. Ich konnte dir das nicht antun. Noch nicht. Fast in Panik drückte ich den Fuß aufs Gaspedal. Deinen fassungslosen Blick fing ich gerade noch auf. <
2. Kapitel
Wo ich meinen Vater zur Rede stelle und Sandra findet, dass mein Vater wie alle Männer ist
An diesem Abend, wie auch an den folgenden Tagen, sah ich meinen Vater kaum. Obwohl das Auto meinen Eltern gemeinsam gehörte, war er jetzt ständig mit dem Wagen alleine unterwegs. Meine Mutter war auf den Bus angewiesen, wenn sie in die Stadt wollte. Aber sie beklagte sich nicht.
Die wenigen Male, an denen ich meinem Vater morgens oder abends im Flur oder in der Küche begegnete, war er schweigsam und kurz angebunden. Mama erklärte mir und Julian, dass Papa einen besonderen Übersetzungsauftrag habe. Er müsse mit dem Auftraggeber persönlich verhandeln. Als freie Übersetzer waren meine Eltern auf jeden Auftrag angewiesen.
Ich musste immer wieder an diese Frau denken. Ob Papa sich wohl heimlich mit ihr traf? Auch Mama erschien mir in diesen Tagen ungewöhnlich ruhig. Als ich sie einmal direkt fragte, ob sie Kummer habe, meinte sie nur, sie mache sich Sorgen um Papas Beine. Aber zu einer Freundin reicht es ihm wohl immer noch, dachte ich hasserfüllt.
Meine Entspannungsübungen begannen, mir zu gefallen. Neben dem Schwererwerden der Arme und Beine spürte ich inzwischen auch die Wärme recht gut.
>Meistens fuhr ich ohne Ziel durch die Gegend, stellte den Wagen irgendwo auf einem Parkplatz ab, zog die Kapuze meines Parkas hoch und wanderte am Seeufer entlang. Ich genoss es, wenn der Wind mir unter die Kapuze in den Nacken jagte. Manchmal traf ich die Frau. Wir redeten viel. Sie verstand mich. Sie verstand mich besser als deine Mutter, Tilda. Deine Mutter dachte in dieser Zeit nur an sich selbst.<
Ich war gespannt, welche Ausrede mein Vater haben würde, um am Wochenende mit dem Auto unterwegs sein zu können. Seine so genannten Auftraggeber musste er ja wohl kaum Samstag und Sonntag treffen. Doch es gab keine Ausrede; er blieb tatsächlich daheim.
Den Samstag verbrachte er allerdings bis zum frühen Abend im Bett. Am Abend hatte Mama ein dampfendes Blech Pizza auf ein großes Holzbrett auf den Tisch gestellt. Für jeden war etwas dabei: duftende Tomaten, weich fließender Mozzarella, saftige Ananasstücke, Salamischeiben, die sich in der Hitze des Backofens gerollt hatten, und scharfe Pepperonistückchen. Julian erhob gleich Besitzansprüche auf den mit Ananas belegten Teil.
Papa erschien im Bademantel. Er setzte sich und blickte heißhungrig auf die Pizza. Die graumelierten Haare standen ihm verklebt vom Kopf ab.
„Hast du mein Haargel benutzt?“, fragte Julian interessiert.
Mein Vater fuhr sich verlegen lächelnd durch die fettigen Strähnen: „Ich glaube, ich sollte mich mal frisch machen vor dem Essen.“
Schwerfällig stand er auf. Als er an mir vorbeiging, roch ich eine leichte Alkoholfahne. Für die andere Frau, für die macht er sich bestimmt immer frisch, dachte ich bitter. Meine Mutter, die blöde Kuh, lächelte ihm auch noch aufmunternd zu: „Ja, Darling, mach dich ein bisschen frisch.“
Ich schaute ihm in die Augen und versuchte in meinen Blick so viel Verachtung zu legen, wie ich nur konnte.
Später beim Essen, nachdem er sich wenigstens die Haare gekämmt hatte, redete mein Vater tatsächlich mal mit mir. Er fragte mich wegen meines Zahnarzttermines. Er sagte, er hoffe, dass bald die Muskelkrämpfe im meinem Kiefer aufhörten.
Wenn das hier alles nicht so traurig wäre, kriegte ich statt der Muskelkrämpfe Lachkrämpfe, dachte ich. Lustlos berichtete ich von meinem Beinahe-Erstickungstod im Folterstudio. Nächste Woche Dienstag würde die Schiene fertig sein.
Julian nervte mit der Idee, ich müsse jetzt eine Zahnspange tragen. Für ihn wäre das der Super-GAU, die schlimmstmögliche Vorstellung von Peinlichkeit. Bis ihm die Ohren abfielen, versuchte ich ihm zu erklären, dass es sich bei dem mir angepassten Gerät keineswegs um eine fest eingesetzte Zahnspange, sondern um eine Knirscherschiene handele, die nur nachts getragen werden müsse. Außerdem – und dies fügte ich mit Blick auf seinen bevorstehenden Termin beim Kieferorthopäden aus pädagogischen Gründen hinzu – gäbe es, soweit ich wüsste, bereits Popstars, die mit Stolz ihren Zahnregulierungsapparat trügen. Ich wusste, mit meiner gestelzten Wortwahl konnte ich ihn ganz schön ärgern. Er schnitt eine Grimasse in meine Richtung.
Das Telefon klingelte. Mama schaute uns ärgerlich an. Papa starrte schweigend auf seinen Teller. Wir blieben sitzen. Wenn wir beim Essen saßen, wurde das Telefon nicht abgenommen.
Und was am wichtigsten sei, fuhr ich mit meinem Lehrvortrag fort, es käme schließlich auf die inneren Werte an und nicht auf Äußerlichkeiten, wie Zahnspange oder Übergewicht. Mama lächelte mir zu. Ich warf einen Seitenblick auf Papa. War die andere Frau schlanker als Mama? Ich versuchte mich an den kurzen Eindruck zu erinnern, den ich gehabt hatte. Ich hatte nur helles, halblanges Haar gesehen. Vielleicht war es ja auch ein junger Mann gewesen? Erschrocken stellte ich fest, dass ich an diese Möglichkeit überhaupt noch nicht gedacht hatte. Natürlich, wieso verdächtigte ich meinen Vater eigentlich gleich des Seitensprungs, nur weil eine mir unbekannte Person neben ihm im Auto gesessen hatte? Aber wieso war mein Vater dann mit dem Auto losgebraust? Ich war hinund hergerissen.
Das Telefon klingelte wieder.
„Vielleicht will Frau Thormann ja was.“
Mama sah meinen Vater unsicher an und