Martina Meier

Wünsch dich ins große Wunder-Weihnachtsland Band 1


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ins Haus! Sie hatte ihren Kopf unter dem Kopfkissen vergraben und hemmungslos geweint. Trotzdem meinte sie, Ernas und Olgas und Monas todesängstliches Gackern und Flattern zu hören. Bis plötzlich Stille eingetreten war. Eine schreckliche Stille. Totenstille. Anna hatte zu Weihnachten keinen Bissen vom „Festbraten“ gegessen. Die Brüder und die Eltern ebenfalls nicht. Und seltsamerweise waren auch die Großeltern von der hundertjährigen Weihnachtshühnerbratentradition abgewichen. Sie hatten die tote Olga dem Nachbarn geschenkt.

      Als ein Jahr später das grüne Wiesenmeer um Annas Häuschen vom Novembereis überzogen wurde und still unter einer dünnen Schneedecke verschwand, als ringsum die Freude auf Weihnachten um die Hausecken zu summen begann, da war Anna traurig geworden. Und je näher das große Fest kam, desto mehr vermischte sich Annas Traurigkeit mit Angst. Mit Angst vor den Geräuschen am Vorweihnachtsabend. Und mit Angst vor der Stille, die dann kommen würde. Der Großvater hatte nämlich auch im Frühling dieses Jahres wieder drei neue Hühner auf den Hof geholt. Anna hatte sich geschworen, nie wieder so eine tiefe Freundschaft mit ihnen anzufangen wie mit Erna und Olga und Mona. Aber es war beim festen Vorsatz geblieben. Irgendwie schienen Hühner auf das Mädchen zu fliegen. Kein Wunder. Denn Anna flog genauso auf Hühner …

      Apropos Wunder. Am Nikolaustag jenes Jahres, als Anna mit Lore, Lene und Lise ein neues Kunststück auf dem Eis probte, da kam plötzlich der Großvater hinzu und reichte ihr verlegen einen Reifen: „Hier für deine wilden Hühner. Vielleicht bringst du sie ja dazu, dadurch zu flattern. Und nur damit du’s weißt: In diesem Jahr beginnen wir eine neue Weihnachtstradition. Es gibt Hirschbraten zu essen …“

      Sylvia Eggert ist 46 und lebt mit ihrer sechsköpfigen Familie in einem uralten Häuschen in Sachsen. Sie ist Gründerin der Werkstatt für kreatives Schreiben „wortgefunkel“.

      *

      Die knallrote Sonnenbrille

      Es ist der 23. Dezember. In unserem kleinen Dorf ist die Vorfreude auf das Weihnachtsfest riesengroß. Denn das Christkind persönlich macht sich Jahr für Jahr auf, selbst unseren unscheinbaren Ort zu besuchen. Also bemühe ich mich um besondere Artigkeit und lobenswerten Fleiß, helfe beim Kochen, Spülen, Putzen und all den anderen Dingen, mit denen man als Fünfjährige der Mutter eine Freude bereiten kann.

      „Du musst noch einen Wunschzettel fürs Christkind malen“, sagt Mutter beschwichtigend zu mir, als sie mich abends fürs Bett fertigmacht. Fast hätte ich das vergessen! Wie soll das Christkind auch sonst wissen, was ich mir wünsche? Ich nehme das leuchtendste Rot, das ich unter den Wachsmalstiften in der Blechdose finden kann, und bringe meinen sehnlichsten Wunsch aufs Papier: eine rote, aber wirklich knallrote Sonnenbrille!

      Mittlerweile ist es draußen fast dunkel. Aber an dem breiten, rosa leuchtenden Streifen am Horizont kann man erkennen, dass die Engel jetzt noch fleißig fürs Weihnachtsfest backen. So haben es mir meine Eltern einmal erklärt. Schweigend nimmt Mutter meine Hand, führt mich vor die geöffnete Haustüre und schiebt meinen fest zusammengefalteten Wunschzettel auf die Küchenfensterbank unter einen schweren Stein. „Damit der Zettel nicht vom Wind davon getragen wird“, flüstert Mutter.

      „Und ... und wozu legst du meinen Zettel auf die Fensterbank?“, stottere ich verdutzt, obwohl ich die Antwort eigentlich schon weiß.

      „Na“, meine Mutter beginnt zu lächeln, „damit das Christkind oder seine Engel den Wunschzettel heute Nacht abholen können.“ Mit offenem Mund stehe ich da und spüre, wie mein kleines Herz rast. Erst als Mutter mich liebevoll am Arm zerrt, löst sich meine Erstarrung. „Ab ins Bett!“

      Nicht gerade bereitwillig taumele ich die Stufen hoch durch unser kaltes Treppenhaus in mein Zimmer. Wärmflasche aus dem Bett, Kind in das Bett. Abendgebet. Licht aus. „Gute Nacht“, haucht Mutter, aber ich bin mit meinen Gedanken woanders: beim Christkind und seinen Engeln.

      „Mama, kommt das Christkind den Wunschzettel wirklich diese Nacht abholen? Mamaaaa!“, rufe ich meiner Mutter, so laut ich nur kann, hinterher, aber ich erhalte keine Antwort mehr. In meinem Bauch flattert es, meine Fußsohlen sind warm und verschwitzt, weil ich sie vor lauter Aufregung aneinander reibe. Dennoch übermannt mich nur kurze Zeit später die Müdigkeit.

      Mitten in der Nacht – oder ist es schon früher Morgen? – werde ich durch ein Geräusch geweckt. Es hört sich an wie das Niederdrücken unserer Haustürklinke. Oder ist es Vater, der in unserer Küche ein neues Feuer im Ofen macht? Er steht nämlich immer sehr früh auf und sorgt dafür, dass bereits wohlige Wärme herrscht, wenn der Rest der Familie dann aufsteht. Das Geräusch könnte aber auch etwas anderes sein ... Es könnte ... o, nein ... o, doch ...! Kreidebleich und starr wie ein Brett liege ich im Bett, als mir der Gedanke durch den Kopf schießt, dass dieses Geräusch nur das Wegschieben des Steins auf meinem Wunschzettel gewesen sein kann. Ich rolle mich zusammen wie eine Schnecke, ziehe die Decke bis an mein Kinn, sodass ich mit einem Ohr noch lauschen kann. Zu meinem Leidwesen verspüre ich plötzlich einen ungeheuren Druck auf meiner Blase. Aber ich kann doch jetzt nicht Pipi machen gehen! Oder doch ... es hilft ja nichts. Vorsichtig taste ich mich erst mit einem Bein, dann auch mit dem zweiten aus dem Bett. Und gerade, als ich mit meinem Po die hohe Bettkante hinunter rutschen will, höre ich Stimmen tuscheln. Mit einem Schwung springe ich wieder unter die Decke und ziehe sie fest über mein Gesicht.

      Das Christkind und seine Engel, geht mir durch den Kopf, das Christkind ... Ich muss Pipi ... Ich muss ... Einige Sekunden später muss ich nicht mehr. Ich bin eingehüllt in ein warm-feuchtes Bettlaken und schlafe trotz alledem vor lauter Müdigkeit wieder ein.

      Als mich Mutter morgens weckt, ist es draußen schon ganz hell. „Und? Hast du es gesehen, das Christkind? Sag mal!“, rufe ich aufgeregt. An der Mimik meiner Mutter erkenne ich, dass sie nicht gerade begeistert ist über die Mehrarbeit, die ich ihr durch das Pinkeln ins Bett verursacht habe. „Ach, Kleine, wie konnte das bloß passieren?“, sagt sie bestürzt. „Nun ja, was soll`s ... Nein, nein, natürlich habe ich das Christkind nicht gesehen, schließlich habe ich doch selbst geschlafen. Du weißt doch, es kommt mitten in der Nacht. Und nun zieh den nassen Schlafanzug aus!“

      In Schlaghose und einen viel zu engen Pulli aus Glitzerwolle gezwängt hüpfe ich die Treppenstufen hinunter, durch den eiskalten Flur bis an die Haustüre. Gerade als ich öffnen will, schließt Vater von außen die Haustüre auf. Zu seinen Füßen liegt ein großer dunkelgrüner Tannenbaum. „Hilfst du mir ihn zu schmücken?“, fragt er.

      „Ja, Papa, ich muss nur erst mal nachsehen, ob mein ...“ Ich drängele mich an der Tanne vorbei nach draußen, hüpfe mehrmals mit großem Schwung nach oben, um auf die Fensterbank sehen zu können, „... ob mein Wunschzettel ... wirklich ... weg ... ist ...“ „Er ist weg! Er ist weg!“, schreie ich. Soll ich vor Freude noch höher springen oder vor Ehrfurcht erstarren? Ich weiß es nicht, also renne ich ins Haus. Es ist eh Zeit für ein Frühstücksbrot und eine Tasse warmer Milch. Nach dem Frühstück lasse ich es mir nicht nehmen, mit Vater zusammen den Baum zu schmücken. Während der ganzen Zeit herrscht geheimnisvolles Schweigen.

      Nur ab und zu wird die Stille unterbrochen: „Die Kugel muss etwas höher, Papa, die Kerze klemmt zu weit unten, Papa ...“ Als wir fertig sind, steht in unserem Wohnzimmer ein wunderschöner Christbaum. Ich bin sicher, das Christkind wird sich an ihm erfreuen!

      „Ich will nicht, ich will nicht!“, schreie ich unter Tränen, während Mutter am Nachmittag Wasser in die Wanne einlaufen lässt.

      Aber Mutter klemmt mich unter ihren starken Arm und befördert mich in das kleine Badezimmer. Hier gibt es kein Entrinnen. „Das Christkind sieht, wenn deine Ohren und dein Hals nicht sauber sind!“

      „Ich zieh einen Rollkragenpulli an!“, schreie ich weiter, immer noch unter Tränen. Eigentlich hasse ich Rollkragenpullis.

      „Nur liebe Kinder ...“, beginnt Mutter streng, unterbricht sich jedoch selbst. Dann fährt sie besänftigend fort: „… und weil du eben ein liebes Mädchen bist, hat das Christkind ja auch letzte Nacht deinen Wunschzettel mitgenommen.“ Langsam versiegen meine Tränen. Nun, das stimmt. „Gut, Ma ... ma, dann ...“, meine Stimme wird immer noch vom Schluchzen unterbrochen, „... dann muss ...