Franz Taut

Roter Stern am Schwarzen Meer


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Vollgas ratterte er durch die Schlucht und dann am Westausgang den steilen Hang hinauf. Erst als wir die gut ausgebaute De-Angelis-Straße erreichten, wurde mir wohler. Wir fuhren natürlich ohne Licht. Schwere Lkws, dicht mit Mannschaften besetzt, kamen uns entgegen, eine Batterie 8,8-Flak, eine Batterie Kanonen und eine lange Reihe kettenrasselnder Sturmgeschütze. Ich fragte mich, wo man das alles so schnell hergenommen hatte. Uns vorn in der Hauptkampflinie hatte man immer gesagt, wir seien auf uns gestellt und dürften mit nichts anderem rechnen.

      Der Kradfahrer bog zum Regimentsgefechtsstand ab, der sich ebenfalls in einer der zahlreichen Schluchten befand, wo man halbwegs sicher vor Artilleriebeschuss war. Vor den Stabsbunkern wimmelte es von fremden Offizieren. Geländegängige Kraftwagen warteten mit laufenden Motoren. Einer davon führte den schwarzweiß-roten Divisionsstander am Kotflügel.

      Gefolgt von unserem Regimentskommandeur trat der General aus einem Bunker. Ich war vom Krad abgestiegen und ging auf den General zu. Er hatte uns mehrmals in der Stellung besucht. Oberst Staufer, unser Regimentskommandeur, winkte ab, doch der General hatte mich schon bemerkt. Straff aufgerichtet kam er heran.

      »Da sind Sie ja«, sagte er. Das goldene Eichenlaub am Kragen seiner Tropenfeldbluse gab seinen Rang zu erkennen. Am Hals schimmerte matt das Ritterkreuz. Ich meldete mich vorschriftsmäßig.

      »Waren Sie schon unterwegs, als der Schlamassel anfing?«, fragte der Divisionskommandeur. Sein scharf geschnittenes, schmales Gesicht war dunkel gebräunt. Die grauen Augenbrauen wirkten wie weiße Striche.

      »Nein, Herr General«, antwortete ich. »Ich bin vorn geblieben, weil ich mit einem Angriff rechnete, allerdings erst morgen früh.«

      Er nickte. »Fahren Sie nach Pokrowskaja, Emser. Werde mal sehen, was sich da oben machen lässt. Ich habe eine Mitteilung für Sie. Aber nicht jetzt. Wir sprechen uns morgen.«

      Er grüßte kurz und begab sich zu seinem Kübelwagen. Der Regimentskommandeur stieg nach ihm ein. Die beiden schienen es äußerst eilig zu haben.

      Als ich knapp eine halbe Stunde später in dem auf einer Höhe gelegenen Trümmerdorf Pokrowskaja ankam, standen Hauptmann Scheffler, der Ic, und Hauptmann Peterhans, sein Dolmetscher-Offizier, vor der Ruine, unter der die Quartier- und Diensträume der Abteilung Ic lagen. Der Kradmelder riss seine Maschine herum und stob frontwärts davon.

      »Bleiben Sie gleich hier, Herr Emser«, sagte Hauptmann Scheffler, mein neuer Vorgesetzter, nachdem ich mich gemeldet hatte. »Es wird bald losgehen. Von hier aus haben wir einen ausgezeichneten Überblick.«

      Ich legte meinen Rucksack ab und lehnte meine Maschinenpistole neben den Eingang zu meiner künftigen unterirdischen Behausung. Hauptmann Scheffler, Reservist, im Zivilberuf Rechtsanwalt, war einmal im Juli mit dem Dolmetscheroffizier vorn in meiner Stellung gewesen, als wir einen schwerverwundeten russischen Major bei uns hatten, der sich, wie viele von der anderen Seite, als Gegner Stalins bezeichnete und wichtige Aussagen machen wollte. Er war vor der Ankunft der beiden gestorben.

      »Ich habe dauernd gewarnt«, sagte der Ic. »Hauptmann Lutz, der Ic beim Jäger-Korps, war einer Meinung mit mir. Nichts zu wollen. Jetzt ist das eingetreten, was zu erwarten gewesen war. Und die Folge: ein verlustreicher Nachtangriff, der womöglich nicht einmal zum Ziel führen wird.«

      »Ich bin dem Herrn General begegnet«, sagte ich.

      »Er will den Angriff persönlich führen«, bemerkte Hauptmann Scheffler. »Oberstleutnant Frisch, unser Ia, hat versucht, es ihm auszureden. Natürlich ohne Erfolg. Diese neue Art der Befehlsgebung kann einen Divisionskommandeur zur Weißglut bringen. Überall mischt man sich hinein, und das Bedenkliche dabei ist, dass seit Stalingrad der Einzelne seinen Wert verloren hat. Bolschewistische Menschenverachtung, krass gesagt. Und was heißt denn überhaupt Kubanbrückenkopf? Wieder so ein Mythos, in Wirklichkeit aber eine Verlegenheitslösung, die uns vom Gegner aufgezwungen worden ist. Wären wir im März über die Straße von Kertsch zurückgegangen, anstatt uns hier festzubeißen, hätte die 17. Armee nicht die Hälfte ihres Bestandes verloren. Die Zangenbewegung hat sich ja in Noworossijsk und im Norden schon deutlich abgezeichnet. Unsere Infanteristen, Jäger und Gebirgsjäger haben die Lage gemeistert – nicht die Zentrale, die weit vom Schuss große Bogen spuckt.«

      »Das Lieblingsthema von Hauptmann Scheffler«, warf Hauptmann Peterhans spöttisch ein. Er war der Aussprache nach Österreicher und sah wie ein uniformierter Schauspieler in einem Kriegsstück aus. Im Ersten Weltkrieg war er lange in Sibirien gefangengehalten worden. Dort hatte er auch sein Russisch gelernt.

      In der Nähe begann unvermittelt eine Batterie schwerer Haubitzen zu feuern. Grell flammten die Mündungsblitze in der Dunkelheit auf, und der Paukenwirbel der Abschüsse hallte in lang rollendem Echo durch die hügelige Weite.

      »Ich glaube, der Nachtangriff ist notwendig«, sagte ich. »Es ist doch anzunehmen, dass die Russen jetzt droben an der Einbruchstelle hineinpumpen, was sie haben. Morgen früh wäre es vielleicht schon zu spät.«

      Die beiden Hauptleute, mit denen ich fortan als 03, als dritter Ordonnanzoffizier, zusammenarbeiten sollte, entgegneten nichts. Sie lauschten auf das sich zusehends verstärkende Artilleriefeuer. Oder war es der Hufschlag mehrerer Pferde, der plötzlich in der Nähe zu vernehmen war, was ihre Aufmerksamkeit erregte?

      Ein in zwei Rotten geteilter Reitertrupp kam in Sicht. Die Reiter waren mit Karabinern bewaffnet. Auf ihren Köpfen saßen hohe schwarze Fellmützen. Zwischen den beiden Gruppen tappten im Laufschritt drei Zivilisten, zwei Männer und ein Mädchen mit offenem dunklem Haar. Der Trupp hielt an. Einer der Reiter saß ab, trat vor Hauptmann Peterhans hin, hob die Rechte an die Fellmütze und meldete etwas auf Russisch. Peterhans antwortete, indem er auf die Zivilisten deutete, die mit trotzig erhobenen Köpfen zwischen den unruhig tänzelnden Pferden standen. Schließlich verschwanden der Hauptmann und drei der Reiter, die jeder einen der Gefangenen, auch das Mädchen, vor sich herstießen, durch den Eingang, der zum Quartier der Abteilung Ic führte. Die übrigen Reiter trabten mit den ledigen Pferden davon.

      »Das sind unsere Kosaken«, erklärte Hauptmann Scheffler. »Wir verwenden sie als Partisanenjäger. In diesem Fall allerdings scheint es sich um Fallschirmspringer, also vermutlich um Agenten, zu handeln, soviel ich verstanden habe.«

      Er brach ab. Das Artilleriefeuer vor uns verdichtete sich zu einer donnernden Kanonade, die sich immer mehr verstärkte. Im Osten, wo die Höhe, die wir verloren hatten, sich schattenhaft abzeichnete, sprühten die Explosionsblitze der Einschläge. Weiße Leuchtkugeln stiegen hoch, gleich darauf grüne, ein Zeichen, dass der Gegenangriff angelaufen war. Die roten Schnüre der Leuchtspurgeschosse woben ein sich ständig veränderndes gespenstisches Muster durch die Nacht. Wenn man selbst mittendrin steckte, sah das alles ganz anders und viel weniger eindrucksvoll aus. Das war nun für mich der Krieg, den ich vor Kurzem noch einmal in seiner grausigen Bitterkeit erlebt hatte: Zuschauer aus der Ferne, aus der – wie ich annahm – Sicherheit des Stabsquartiers.

      Doch wie es um die Sicherheit bestellt war, sollte ich sogleich erfahren. Feindliche Ferngeschütze griffen in das Gefecht ein. Auf der Nachschubstraße detonierten ihre schweren Koffer. Dann krachten die ersten Einschläge in Pokrowskaja, und die weit fliegenden Splitter trieben uns in Deckung.

      Ich folgte Hauptmann Scheffler eine Treppe hinunter, deren Stufen aus den Schwellen einer abmontierten Bahnlinie bestanden. Wir gelangten in einen Raum, in dem elektrisches Licht brannte, das von einem Aggregat mit Strom versorgt wurde. Die Decke des Raumes war aus Beton und mit mächtigen Pfosten abgesteift. An einem Tisch unter der nackten Glühbirne saß Hauptmann Peterhans. Er hatte die Mütze abgenommen. Sein ergrautes Haar bildete einen Kranz um eine runde Glatze, die wie die Tonsur eines Kapuziners aussah. Vor dem Tisch standen das Mädchen und die beiden Männer, dahinter die drei Kosaken, die Karabiner im Anschlag.

      Ich verstand kaum Russisch. Während des ganzen Feldzuges war ich nur selten mit der Bevölkerung in Berührung gekommen. Aber aus dem Ton, in dem das Mädchen soeben eine Frage des Hauptmanns beantwortete, hörte ich trotz aller Schärfe die Todesangst. Das mitunter zuckende Licht fiel auf ein bleiches, angespanntes Gesicht. Die dunklen Augen, unter langen schwarzen Wimpern halb verborgen, starrten zu Boden. Sie trug ein schäbiges graues Kleid, das eng ihren