Die Generäle des Verteidigungsministeriums waren schon zu lange weg vom Geschehen draußen und an den Schreibtisch gefesselt. Die hatten wohl vergessen, dass die Natur kein Verständnis für Alienübergriffe hatte und Operationen an ihr Scheitern konnten.
Das Raumschiff im Orbit, welches seit dem Morgen den Codenamen E1 bekommen hatte, wartete wie gehabt regungslos und ohne weitere Versuche von Kontaktaufnahme.
Stoupidis spekulierte darauf, dass die außerirdischen Frösche auch keinen Kontakt zu ihren Kameraden hatten, die im Eis abgeschmiert waren, und deshalb die Füße still hielten. Die Frage war also, wer fand sie zuerst?
Kaya hätte nicht gedacht, dass sich die Luke des kleinen Raumschiffs noch einmal für sie öffnen würde. Sie hatte auch nicht angenommen, jemals wieder herzukommen. Schon gar nicht bei diesen Wetterverhältnissen. Aber sie hatte mehr als einen Grund zu diesem Wagnis. Die ganze letzte Nacht hatte sie darüber nachgedacht. Sondiert, ausgelotet, abgewogen, recherchiert. Irgendetwas war mit ihr passiert, seit sie Kontakt zu den Aliens hatte. Als wäre eine Mauer in ihr niedergerissen worden. Als wäre ein Knoten geplatzt.
Sie fühlte! Sie fühlte so viel. Es überforderte sie und machte ihr Angst. Aber um nichts in der Welt würde sie diese Unsicherheit eintauschen wollen. In den letzten Stunden waren ihre Empfindungen noch mehr geworden. Sie schnitten wie Messer in ihre Seele ein und trotzdem fühlte sie sich quicklebendig.
In der Nacht war sie Dr. Schullers Aufzeichnungen durchgegangen. Da Inselbegabte einen Haufen Informationen auf einmal verarbeiten und speichern konnten, werden alle anderen nicht lebensnotwendigen Dinge wie Gefühle, soziale Kompetenzen und anderes unterdrückt, sonst würde einfacheres wie aufs Klo zu gehen und beim Essen nicht zu kleckern nicht mehr funktionieren. Es hatte immer wieder Versuche gegeben Inselbegabte einer gewissen Strahlung auszusetzen, doch aufgrund des Ethikcodes, Menschen auf keinen Fall wie Versuchsobjekte zu behandeln, wenn keine 100%ige Aussicht auf Erfolg bestand, waren diese illegal.
Kaya sah zu dem eingeschneiten Vehikel hinauf, das im wilden Flockentanz fast nicht zu erkennen war. Der eisige Wind biss Kaya in die Haut. Sie hatte vergessen die Schutzcreme aufzutragen. Ein weiteres Indiz ihrer Kopflosigkeit. Aber sie hatte in den frühen Morgenstunden eine riesige Portion Muffins produziert und liebevoll ein puffiges Topping aufgesetzt. Mit leeren Händen vor den grünen Herrschaften aufzutauchen fand sie unhöflich.
Auf der Rampe wartete der Alien, der ihr gestern in die Jacke geholfen hatte. Er schenkte ihr ein Lächeln und versuchte zu verbergen, dass er vor Kälte schlotterte.
„Sondivad.“
Kaya durfte Tede kurz begrüßen, die offenbar im Cockpit zu tun hatte. Im ganzen Schiff war eine gewisse Hektik zu bemerken und alle Anwesenden froren erbärmlich und schnauften, als würden sie an Kurzatmigkeit leiden. Am Schiff war anscheinend mehr kaputt als es von außen den Eindruck machte. Der männliche Alien hatte sich als Cem vorgestellt. Er bereitete Kaya eine Art Drink zu, als die Tür am Ende des Aufenthaltsraumes aufgeschoben wurde. Äile Ino Mmah tauchte auf und das was er von sich gab, klang wie unterdrücktes Fluchen. Hätte er Zähne, dann hätte er sie wohl in diesem Moment gefletscht. Kaya tat so, als hätte sie es nicht bemerkt und erhob sich stattdessen. Der Äile-Kerl sah sie und stoppte erstaunt.
„Sondivad, Äile Ino Mmah.“
„Sondivad, Gaia“, antwortete er schnaufend.
Cem lieferte ein paar Erklärungen und der Große rieb sich beim Näherkommen die Augen. Hatte er ein Nickerchen gemacht? Kaya musste schmunzeln und sofort piekte ein neuer Stich in ihrer Herzgegend. Sie amüsierte sich so, wie es Bekka manchmal vor dem Fernseher tat. Das war… irgendwie großartig.
Der Äile setzte sich und rieb dabei über seine Arme.
„Kalt?“ Kaya machte seine Bewegungen nach.
Er nickte.
„Hmm. Sag.“
„Sag?“
„Sag!“ Er deutete auf die Muffins. „Guhen?“
Nun, das stimmte nicht ganz, aber was sollte es. Kaya schob die Box zu ihm und er nahm ohne Umschweife einen Muffin und biss hinein. Sein angestrengtes Atemholen machte Kaya richtig Sorgen. Wenn die Luftverhältnisse nicht einwandfrei waren, warum trugen die Aliens nicht ihre weißen Raumanzüge. Kaya sah auf ihre Uhr. Der Sturm sollte noch heftiger werden. Das durfte zwar das Schiff vor Entdeckung schützen, aber der Crew würde das noch weiter zusetzen. Wie konnte man da helfen?
Kaya fiel der alte Generator von Großvater ein, den Vater seit Jahren im Keller verstauben ließ. Er funktionierte über eine Spule, die sich nach dem Anwerfen selbst auflud wie die Autobatterien der Oldtimer aus den 2000er Jahren.
Kaya packte ihre nasse Tasche auf den Tisch. Sie hatte Bücher mitgebracht, da sie auf das Internet nicht zugreifen konnte. Außerdem packte sie ihr Dic-Da-Dic aus. Damit konnte sie gespeicherte Fotos und Filme zeigen.
Äile Ino Mmah beugte sich interessiert über ihre Mitbringsel. Er war Kaya so nahe, dass sie seinen Atem spürte. Die Beschaffenheit seiner Hände war wirklich faszinierend, ebenso wie seine Geduld. Obwohl ihm die Zähne, nein, die silbergraue Mahlleiste klapperte, hörte er sich Kayas Vortrag an, die mit Hilfe von Bildmaterial klar machte, dass eine Sondereinheit nach seinem Schiff fahndete. Außerdem erklärte sie ihm die Örtlichkeiten und die Namen der wichtigsten Länder des Planeten Erde. Als Dank zeigte er ihr seine Welt. Einen Planeten, unfassbar weit weg. Er sah aus wie eine braunorange Kugel, die von zwei Sonnen umkreist wurde. Sein Heimatplanet hieß Ssor. Die Bewohner – die Ssorsa, wie Ino Mmah stolz betonte, lebten in drei geteilten Zonen. Seine Familie, die Mmah, wohnten im mittleren Ring des Planeten, den als Hauptsitz die Stadt Fanga zierte.
Kaya berührte vorsichtig die projizierten Bilder der glänzenden Häuser, die wie Dreiecke übereinander standen, dass es an ihren Fingerspitzen flimmerte. Die Gebäude waren in demselben Weiß gehalten wie das Raumschiff, mit riesigen Glasfassaden, die bunt in der Sonne glitzerten. Ein schöner Anblick.
Schließlich nahm sie der Kapitän, oder was er auch war, mit nach draußen und ließ sich über das ihm unbekannte Phänomen Schnee aufklären. Kaya bot ihm ihre Pudelmütze an. Erst beäugte er sie skeptisch, aber schließlich langte er danach und setzte sie auf. Kaya unterdrückte ein Lachen, formte einen Schneeball und warf ihn gegen die nächste Tanne. Sie war schon ganz stolz, dass sie getroffen hatte, als ein zweiter Ball den Baumstamm traf, sodass die ganze Tanne davon durchgeschüttelt wurde. Kaya wirbelte herum. Unter der gelben Pudelmütze blitzte ein triumphierendes Lächeln. Kaya wurde es warm ums Herz, obwohl das nach logischen Gesichtspunkten nicht sein durfte. Diese Wesen waren nicht ihre Freunde und ihre Ambitionen noch ungewiss. Trotzdem freute sie die kindliche Zufriedenheit des Äile. Allerdings fror er erbärmlich.
Kaya linste in den Himmel. Noch war der Weg bis zu ihrem Haus und zurück zu schaffen, bis die Dunkelheit einsetzte und das Unwetter heftiger wurde. Aber sie würde Hilfe brauchen.
Noch eineinhalb Tage bis Neujahr. Obwohl die Pangaea Allianz, kurz PA sich gerne wie ein unerschütterliches Bollwerk gab, wurde der Ton aufgrund unterschiedlicher Ansichten immer schärfer. Zudem gab es ernsthafte Überlegungen, ob nicht sogar das Feuerwerk in der Nacht vom 31.12. verboten werden sollte, um Objekt E1 nicht einen Grund zum Ballern zu liefern. Die Meldungen über Fanatiker und Hobbyfunker, die versuchten den Aliens Nachrichten zu schicken, häuften sich. Die Stimmen der Vertreter des nordamerikanischen Sektors verlangten mit jeder verstreichenden Stunde immer eindringlicher sich der Bedrohung zu entledigen.
Die Bevölkerung der Erde ging mit der Situation auch sehr unterschiedlich um. Manche hatten sich in privaten Bunkern eingeigelt. Anderen murrten und zettelten Revolten an, weil sie wie gewohnt ihrer Arbeit nachgehen wollten. Die Polizei hatte überall Schwierigkeiten das Ausgehverbot aufrecht zu erhalten. Andere Landstriche der Welt hatten bis jetzt nicht mitbekommen, dass nun eindeutig bewiesen war, dass die Menschen im Universum nicht alleine waren.
Welcher Meinung man auch war, der wissende Teil richtete seine Aufmerksamkeit auf den Süden Deutschlands, der im Schnee versunken war.
Damian Stoupidis hatte seine Mannschaft im Griff. Er kommunizierte über Morsezeichen