Sie rief ihm hinterher: »Dann sehen wir uns jetzt wirklich öfter!«
Vor dem Haus lag eine kostenlose Wochenzeitung auf der Fußmatte. Martin stellte die Kartons beiseite, nahm die Wochenzeitung, schloss die Tür auf und legte sie in der Küche auf den Tisch. Dann holte er die Kartons herein und ließ sie im Flur stehen. Am Küchentisch blätterte er in der Wochenzeitung. Eine Anzeige fiel ihm ins Auge: Flohmarkt für gebrauchte Kleider. Er sah von der Zeitung auf ins Wohnzimmer, in dessen Mitte noch immer Großmutters Kleider auf den beiden fahrbaren Ständern hingen. Dann nahm er sein Smartphone, wählte die angegebene Nummer und machte Nägel mit Köpfen. Nicht einmal eine Standgebühr wurde verlangt. Nur ein Kuchen, da könnte er Frau Wondra fragen.
Am Ostersamstag, dem Flohmarkt-Samstag, um kurz nach sieben Uhr, holte Martin die beiden Kleiderständer aus dem Volvo. Kaum hatte er sie auf dem Gehweg abgestellt, da tippte ihm jemand auf die Schulter, Martin drehte sich um.
»Hier können Sie Ihr Auto nicht stehen lassen«, sagte ein Mann in schwarzer Jogginghose und einem Shirt, auf dem in orangenen Großbuchstaben Orga-Team geschrieben stand. »Das ist die Feuerwehrzufahrt.«
»Ich lade nur schnell ab«, sagte Martin.
»Das sagen alle, und dann haben wir den Salat. Ich gebe Ihnen eine Minute, aber wehe, es werden zwei.«
Wortlos kehrte Martin dem Wichtigtuer den Rücken und sah sich mit den Stangen in beiden Händen um. Es herrschte emsiges Treiben. Tapeziertische wurden auseinandergeklappt, Kisten ausgepackt und Habseligkeiten ausgebreitet, die heute den Besitzer wechseln sollten. Martin sah altes Kochgeschirr, Silberlöffel, Legobausätze, Kisten voller Matchboxautos und einen Tisch nur mit Hüten. Er rief sich die Anzeige ins Gedächtnis: Flohmarkt für gebrauchte Kleider. Ob er mit Großmutters Kleidern in eine andere Ecke musste? Er sprach eine Frau an, die gerade Babystrampler vor sich ausbreitete und sie mit den Händen glattstrich, als wische sie eine vergangene Zeit weg.
»Entschuldigung, können Sie mir sagen, wer die Stände einteilt?«
»Freie Wahl«, sagte die Frau.
Von Wahl konnte jedoch keine Rede mehr sein, stellte er fest, als er sich erneut umsah. Er schüttelte den Kopf. Nur noch am Rand des asphaltierten Turnhallenvorplatzes entdeckte er eine Stelle, die ihm groß genug schien für seine beiden Kleiderständer und den Hocker, den er in Großmutters Keller aufgetan hatte. Schnell verband er die Stangen, so dass er mit ihnen den Platz reservieren konnte und eilte zum Auto zurück, um die Kleider und den Hocker zu holen.
Von einem Mädchen, das unterschiedliche Puppen auf einem Tisch drapierte und so liebevoll über deren Köpfe strich, als wolle sie sie behalten, erfuhr er, dass der Kuchen, den ihm Frau Wondra gebacken hatte, in der Turnhalle abgegeben werden sollte.
»Oh, wie der duftet«, sagte die Frau, die ihn entgegennahm. »Name?«
»Martin Wachs.«
Wenn er das Paule erzählte. Du magst doch keine Menschenansammlungen, würde der sagen und recht hätte er. Als sie sich angefreundet hatten, hatte Paule oft versucht, ihn auf irgendwelche Rockkonzerte mitzunehmen. Aber bald hatte er verstanden, dass Martin in seiner freien Zeit lieber alleine war, oder allenfalls Lesungen besuchte.
Die Frau starrte noch immer auf die Liste.
»Wachs«, sagte er in der Hoffnung, die Frau würde seinen Namen nun endlich finden.
»Das sagten Sie bereits.«
»Wachs schreibt man mit W. Mein Name müsste ganz unten stehen.«
»Die Namen sind nicht alphabetisch aufgelistet.« Die Frau rückte ihre Brille zurecht und fuhr mit dem Zeigefinger akribisch von oben nach unten über die Liste. Wenn sie ihn nicht in den nächsten Sekunden fand, würde sie ihm hinterherrufen müssen. Endlich konnte er die Halle wieder verlassen, fragte sich aber, warum der Flohmarkt nicht hier drinnen stattfand, wo Wärme und Kuchen in greifbarer Nähe waren. Ihm sollte es allerdings recht sein, er war lieber an der Luft. Was war das nur wieder für eine Idee gewesen? Am Ostersamstag einen Flohmarktstand anmieten. Das lag ihm wohl in den Genen.
Weggeschmissen wird nichts.
Ja, Papa.
Martin drängte sich durch die Menschen zurück zu seinem Stand. Dieser Platz war zu klein für all die Anbieter und Kaufinteressierten. Zügig ging er durch die Tischreihen, bis ihn eine Frau anrempelte, die von der Seite kam.
»Hoppla«, sagte sie.
Martin zuckte zusammen.
»Oh Verzeihung.«
»Ist schon gut«, sagte Martin und wollte seinen Weg fortsetzen, da hielt ihn die Frau auf:
»Ach, das sind ja Sie, Frau Vollmers Enkel. Wie geht es Ihnen?«
Ihre pechschwarzen Haare glänzten wie Lack. Die Frau aus dem Hospiz.
»Gut«, sagte er und wollte weiter.
»Lösen Sie den Haushalt Ihrer Großmutter auf?«
»Ja, ich versuche hier ein paar Kleider loszuwerden, vielleicht …«
»Ihre Großmutter hat immer sehr auf ihr Äußeres geachtet.«
Ja, dachte Martin. Äußerlichkeiten. Als ob es darauf ankam.
»Viel Erfolg«, sagte sie und ging davon.
Erleichtert stellte Martin fest, dass die Ständer mitsamt Kleidern noch an Ort und Stelle standen. Neben ihm stapelten zwei Jugendliche – ein Mädchen und ein Junge, sie mochten Geschwister sein – Gesellschaftsspiele auf: Monopoly, Mensch-ärgere-dich-nicht und Scrabble. Spielte das heute noch jemand? Martin schätzte die beiden auf vierzehn oder fünfzehn Jahre. Sie schielten zu ihm hinüber.
»Schau mal, der Alte verkauft Frauenkleider«, sagte der Junge so laut zu dem Mädchen, dass Martin es nicht überhören konnte. Jetzt kam er auch noch näher, griff eines der Kleider aus dem Ständer und hielt es in die Höhe.
»Könnte noch zu klein sein für dich, Schwesterherz«, sagte er.
Martin nahm ihm das Kleid aus der Hand. Worte sparte er sich, an einen pubertierenden Jugendlichen wollte er keine verschwenden. Die Mutter kam hinzu, schimpfte laut genug mit ihrem Sohn, Martin nickte zum Zeichen, dass es in Ordnung sei, und wollte das Kleid zurückhängen, da vernahm er eine weibliche Stimme im Rücken: »Warten Sie, zeigen Sie doch mal her.«
Schon wieder die Frau aus dem Hospiz.
Sie nahm ihm das Kleid ab, hielt es etwas von sich weg, murmelte Das könnte passen, legte es quer über den Ständer und schaute die anderen Kleider durch.
»Da ist ja eines schöner und eleganter als das andere. Ich sehe Frau Vollmer vor mir.«
Noch bevor Martin irgendetwas sagen konnte, fuhr sie fort: »Eine gute Idee von Ihnen, die Kleider hier anzubieten. Ich weiß gar nicht, wie ich mich entscheiden soll.«
»Nehmen Sie doch alle«, rutschte es Martin heraus. Das wäre seine Chance, in Windeseile diesen belebten Platz verlassen zu können.
»Was kosten die Kleider denn?«
Martin war die Frage unangenehm. Wie stand er nun da vor dieser Frau, die seine Großmutter gekannt hatte. War sie ihre Pflegerin gewesen? Was hielt sie von ihm, der aus den Kleidern Kapital schlagen wollte?
»Nun?«, fragte sie.
»Ich schenke sie Ihnen.«
»Aber nein, das müssen Sie nicht.«
»Doch, doch«, sagte er. Wenigstens sah es jetzt nicht so aus, als wolle er sich am Tod seiner Großmutter bereichern.
»Ich glaube, dann nehme ich alle … unter einer Bedingung.«
»Aha. « Martin mochte keine Bedingungen.
»Ich darf Ihnen dafür etwas geben.«
»Wenn Sie das unbedingt wollen.«