Birgit Jennerjahn-Hakenes

Zeit verteilt auf alle Wunden


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Und deswegen kommen Sie extra noch einmal hierher? Ich brauche keine Erinnerung an meine Großmutter, Sie hätten die Schürze behalten können.

      Frau May deutete auf die Tasse in seiner Hand. »Das duftet ja nach Kaffee bei Ihnen. Wahnsinn! Wie in einem alten Kaffeehaus. Frisch gemahlen, oder?«

      »Ich trinke meist frisch gemahlenen.« Martin streckte die freie Hand nach der Schürze aus.

       Auf was wartete Frau May?

      »Darf ich hereinkommen?«

       Nein.

      »Ich muss Ihnen etwas zeigen«, sagte sie und schob sich schmunzelnd an ihm vorbei in den Flur, schielte ins Wohnzimmer und rief: »Ziehen Sie hier eigentlich ein?«

      Martin begann zu befürchten, dass auch sie Interesse an dem Haus haben könnte und die Kittelschürze nur ein Vorwand war.

      »Was ist denn jetzt damit?«, fragte er und deutete auf das Kleidungsstück, das nach wie vor über Frau Mays Arm baumelte.

      Frau May marschierte ins Wohnzimmer und hängte die Schürze auf einen der Kleiderständer. Dann stellte sie sich daneben und verschränkte die Arme. Sie lächelte und wirkte wie jemand, der einem anderen einen lang ersehnten Beweis liefern konnte.

      »Langen Sie mal in die Tasche!«

      »Bitte?«

      »Tun Sie’s!«

      Er dachte an seine Lieblingslektüre aus Kindertagen. Wie die Dollarzeichen in Dagobert Ducks Augen sah er jetzt unzählige Ausrufezeichen in Frau Mays Blick aufleuchten. Er war drauf und dran, sie hinauszuwerfen, aber ihr Blick verwirrte ihn zu sehr, als dass er die richtigen Worte fand.

      »Tun Sie’s, bitte, Sie werden es nicht bereuen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie das verschenken wollten.«

      Was sollte das? Zögerlich langte er in die große Kittelschürzentasche. Noch bevor er den Gegenstand herauszog, wusste er, was es war: das Büchlein!

      So oft hatte er früher über den samtenen Einband gestrichen und die einzelnen Blütenblätter der aufgedruckten roten Gerbera nachgefahren. So oft hatten seine Finger diesen Schatz berührt, dass sich dieses Gefühl wie ein unveränderbarer Code in sein Gehirn eingebrannt hatte. Jetzt hielt er es in den Händen.

      »Ich dachte, das möchten Sie vielleicht wiederhaben.«

      Martin war nicht in der Lage, ihr zu antworten. Er wollte jetzt nur noch alleine sein.

      Fassungslos stand er da, sah auf das Büchlein und hielt es so fest, als bestünde die Gefahr, eine unsichtbare Kraft könne es ihm wieder entreißen. Er spürte eine sanfte Berührung an seinem Arm, vernahm dann das Geräusch leiser Schritte auf Holz und dann kaum hörbar das Öffnen und Schließen der Haustür.

      Erst als er wieder ganz allein war, strich er über die Blütenblätter der Gerbera auf dem samtenen Einband.

       Schau mal Mama, ein Käfertunnel.

       Ein Käfertunnel?

       Ja hier, schräg über die Straße, damit die Käfer heil zur anderen Seite kommen, kein Auto sie überfährt und keiner drauftritt.

      Seine Mutter hatte ihm die Illusion nicht genommen und ihn nicht darüber aufgeklärt, dass diese Rinnen in den Bergen dazu dienten, dass das Wasser abfließen konnte, wenn die Schneeschmelze einsetzte.

      Er traute sich nicht, nachzuschauen, ob das Wort Käfertunnel, das seine Mutter seines Wissens nach noch im Wanderurlaub eingetragen hatte, noch enthalten war. Er wusste, es gab sehr viel ältere Aufzeichnungen als das hier, aber nach der Erfahrung mit den defekten Tonträgern und dem einzig erhaltenen Satz seiner Mutter zögerte er den Moment hinaus, das Büchlein aufzuschlagen. In ihm kämpften Vorfreude und Angst gleichermaßen. Die Vorfreude glich der an Weihnachten, als seine Eltern noch gelebt hatten, und er nicht hatte abwarten können, in das Wohnzimmer zu gelangen, wo ihn dann der Anblick des von Mutter liebevoll geschmückten Baumes genauso glücklich machte wie die eingewickelten Pakete, die Vater von unterwegs mitgebracht hatte. Er hatte Angst vor einer Enttäuschung. Was, wenn das, was er las, gar nicht so großartig war, wie er glaubte? Er hatte nicht mehr damit gerechnet, das Büchlein zurückzubekommen. Vielleicht hatten die Wörter darin für ihn nur deshalb eine so große Bedeutung gewonnen.

       Denn was du hast, das merkst du erst, wenn du es nicht mehr hast.

      Stand wirklich jedes einzelne Wort noch genauso dort geschrieben, wie er erinnerte, es mit seiner Mutter aufgezeichnet zu haben? Wie auf einer Bühne stand er unentschlossen mitten im Wohnzimmer, so, als müsse er gleich einen wichtigen Text aufsagen und wisse nicht wie, weil jeder Satz, jedes Wort, sogar jeder Buchstabe eine angemessene Betonung verlangte. Ihm wurden die Beine schwer und er beschloss, dass es nun an der Zeit sei, Mutters Sessel hier hereinzuholen. An keinem anderen Ort auf der Welt hätte er das Büchlein aufschlagen wollen.

      Nachdem er den Lesesessel an der Fensterfront platziert hatte, setzte er sich hinein und schlug das Büchlein auf.

       Wort-Schätze – besondere Worte von Martin und Ruth.

      Wie erleichtert er war.

      Dann las er. Las und las und las. Las, bis er das Gefühl hatte, dies war kein Traum. Großmutter hatte ihm ein Stück glückliche Kindheit zurückgegeben.

       Schau mal Mama, der Himmel ist wolkenbunt.

       Wolkenbunt – das ist ein Wort für unser Büchlein, Martin.

      Ja, früher war alles bunt gewesen. Er las die Worte Sonnenblumensterne, Sehkästchen, Tränentau, Morgenlächeln, Laubbub, plauderlustig und dachte, dass ihm genau das heute fehlte: das Bunte. Aber nicht nur Farben verblassten.

      Manchmal taten ihm die Schriftsteller leid. Wer schreibt, bleibt. Von wegen! Wussten sie denn nicht, dass nichts blieb? Dass die Sonne mehr Kraft hatte als niedergeschriebene Worte? Dass sie in 7,49 Milliarden Jahren alles verschlucken würde? Für sein Empfinden war Leben endlich, waren Worte endlich, nur Zeit nicht. Die Vorstellung aber, etwas Besonderes für eine lange Zeit zu hinterlassen, fand Martin nachvollziehbar. Und was ihn betraf, so würde das Büchlein ihn nun bis an sein Lebensende begleiten. Was danach mit den Worten passierte, lag nicht mehr in seiner Macht. Mit nichts anderem hätte Frau May ihm eine größere Freude bereiten können. Unmögliches schien möglich, seine Mutter schien Stück um Stück von den Toten zu erwachen. Er schluckte und überlegte, welches Wort er wählen würde, wenn es nur ein Wort gab, das er der Nachwelt überlassen durfte. Vielleicht Wolkenwinker, weil es zum Thema Abschied passte, oder Badewannenwasserwellen, weil es einen trotz seiner Länge nicht erschlug, sondern weich berührte, oder Butterblumenfest, Tollmond oder himbeerblaubeerig? Es gab so viele schöne Worte in diesem Büchlein, das wie ein eigenes Kind auf seinem Schoß lag. Letztendlich waren die Worte aber nur für ihn selbst von so großer Bedeutung; er konnte sich nicht vorstellen, dass andere bei Badewannenwasserwellen ähnlich empfanden wie er. Auch wenn Frau May ihm das Büchlein zurückgebracht hatte, weil sie spürte, dass es etwas Besonderes war.

       Ich darf Ihnen dafür etwas geben.

       Wenn Sie das unbedingt wollen.

      Die Ereignisse wühlten ihn auf. Am besten, er ging spazieren. An früher denken wollte er nicht mehr. Nicht jetzt, wo das Leben für ihn von vorne begann. Eilig ging er aus dem Haus. Wenn er einen Fuß vor den anderen setzte, würden seine Gedanken der Vorwärtsbewegung folgen, so hoffte er.

      Als er zurückkam, fühlte er sich erfrischt und hungrig. Er aß einen Teller Spaghetti mit Pesto und gönnte sich dazu ein Glas teuren Rotweins. Danach setzte er sich in den Sessel und nahm das Büchlein erneut zur Hand. Behutsam, als drohten die Blätter zu Staub zu zerfallen, las er darin. Viele wunderschöne Formulierungen tummelten sich wie Goldfische in einem Teich. Er entdeckte Worte wie Duftikuss, Rosenblätterregen oder Nachtperlen als Synonym für Sterne am Himmel.