Jörg Weigand

Die Welten des Jörg Weigand


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dieser hässlichen Aussicht wenigstens zeitweise durch eine Verlängerung des Lebens zu entgehen.

      Huang hatte für alles Verständnis gezeigt, ihm schienen solche Ängste nicht fremd zu sein. In fast akzentfreiem Englisch hatte er hin und wieder kurze Zwischenfragen eingeworfen und ihm schließlich – der neue Tag begann außerhalb der Kneipe bereits zu grauen – angedeutet, dass er vielleicht eine solche Möglichkeit wüsste, nach der Pieter van Delden so leidenschaftlich, so verzweifelt suchte.

      »Wir werden eine Rast einlegen«, unterbrach der chinesische Führer seinen Begleiter in dessen stillen Überlegungen. »Wir haben es nun nicht mehr weit. Morgen, so gegen Abend, werden wir in dem Dorf T’ai-po, dem Ort der Erhabenen Weiße, eintreffen. Dort wartet bereits das Festmahl auf uns, und die Dorfbewohner stehen zu unserem Empfang bereit.«

      Dankbar über die Marschpause ließ sich der Holländer ins spärliche Gras sinken. Er hatte Durst, und seine Füße schmerzten. Sie marschierten durch eine felsige Bergwelt ohne viel Wald, die hin und wieder von tiefen Schluchten durchzogen wurde. Schroffe Abgründe hatten mehr als einmal ihr Vordringen gestoppt und sie zu Umwegen veranlasst.

      Der Pflanzenwuchs in der Region war spärlich. Harte, schilfige Gräser und verholzte Stauden bildeten fast den einzigen Niederwuchs; Flechten überzogen die freiliegenden Felsen. Selten, dass irgendwo eine Blüte zu sehen war.

      Van Delden verkroch sich in den schmalen Schatten einer Zirbelkiefer und zog sich die Schuhe von den Füßen. Wohlig bewegte er die befreiten Zehen und nahm gleichzeitig einen tiefen Schluck aus der Feldflasche, die ihm Huang Pao-li reichte. Darin befand sich dünner grüner Tee. Der Europäer trank mit Genuss, auch wenn sein Körper nach Alkohol gierte.

      »Erzähl mir bitte noch ein wenig von der Zeremonie, wie du es nennst«, bat er den Chinesen. »Mir sind noch nicht alle Einzelheiten klar geworden.«

      Huang Pao-li hockte sich nieder und begann noch einmal geduldig mit seinen Erklärungen.

      »Die Hakka kennen das Geheimnis des langen Lebens schon seit urdenklichen Zeiten; irgendwann in grauer Vorzeit haben ihre Urväter dieses Wissen erlangt. Das besagt, dass man das eigene Leben verlängern kann, wenn man die Lebenskraft eines anderen Lebewesens in sich aufnimmt. Diese Kraft, so sagen die Hakka, befindet sich im Gehirn. Und je höher entwickelt ein Geschöpf ist, desto größer ist auch die ihm innewohnende Lebenskraft, das ist klar.«

      »Aber dann müsste man doch folgerichtig das Hirn eines Menschen zu sich nehmen, denn er ist das höchste aller Geschöpfe«, zog van Delden den Schluss aus der Erzählung des anderen, wobei es ihn innerlich schon beim bloßen Gedanken daran grauste.

      »Stimmt!«, bestätigte Huang Pao-li und trank seinerseits einen kräftigen Schluck. »Doch darüber brauchen sich die Hakka nicht den Kopf zu zerbrechen, da in ihren Bergen eine besondere Art von Affen vorkommt, die ein außergewöhnlich großes Gehirn besitzt. Diese Affen werden von den Hakka-Leuten in Bambuskäfigen gehalten, die sie nur verlassen dürfen, um bei der heiligen Zeremonie ihre Lebenskraft weiterzugeben.«

      »Du hast mir etwas erzählt von einem Getränk, das dabei gereicht wird. Weißt du, woraus es besteht?«

      Pao-li schüttelte den Kopf.

      »Das weiß niemand außer dem Dorfzauberer. Die Formel, nach der die Zutaten gemischt werden, wird vom Eingeweihten immer nur an seinen Nachfolger weitergegeben. Verständlich, wenn man daran denkt, dass der Trank magische Kräfte besitzen soll. Man erzählt auch, dass nur derjenige das Geheimnis der Hakka erfährt, der auch von dem Gebräu getrunken hat. Mir ist wenigstens bekannt, dass immer nur wenige Auserwählte während einer Zeremonie davon kosten dürfen.«

      »Warum kannst du mir nicht mehr darüber erzählen?«, fragte der Holländer etwas unwillig, denn die vagen Andeutungen hatten ihn neugierig gemacht.

      Der Chinese wurde verlegen und druckste herum, als sei es ihm unangenehm, auf diese Frage zu antworten.

      »Weil nicht jeder auch nur an der einfachen Zeremonie teilnehmen darf«, gestand er schließlich, wollte sich aber nicht weiter dazu äußern, obwohl van Delden in ihn drang.

      Doch der Europäer wollte noch mehr wissen. »Wie ist es eigentlich möglich«, fragte er, da er bemerkte, dass er über das andere Thema aus seinem Führer nichts herausbekommen würde. »Wie kommt es, dass die Hakka ihre alten Sitten und Gebräuche so total unbehelligt von der politischen Führung in Peking pflegen können?«

      Diese Frage schien Huang Pao-li wieder genehm zu sein, denn seine Antwort darauf kam wie aus der Pistole geschossen.

      »Peking liegt weit weg im rauen Norden, was wissen die dort oben schon von den Bräuchen des Südens! Die Hakka waren schon immer ein sehr eigenständiges Volk. Sie haben sich über zweitausend Jahre chinesischen Kaisertums ihre Unabhängigkeit bewahren können und auch die Fremdherrschaft der Mandschus überstanden, ohne in ihrem Eigenleben gestört zu werden. Und als 1911 das Kaiserhaus gestürzt wurde, lebten sie im Grunde immer noch so wie ihre Ahnen vor vielen hundert Jahren. Während des Bürgerkrieges bis zum Jahre 1949 zogen sie sich noch weiter in die unwegsame Wildnis ihrer Berge zurück, wohin ihnen niemand folgen mochte, denn wer sich zu weit vorwagte, der kehrte nicht mehr zurück. Und die neuen Machthaber in Peking haben zwar wiederholt versucht, den Widerstand der Hakka zu brechen, aber bis heute ohne Erfolg. Daran haben auch die Wirren während der Großen Proletarischen Kulturrevolution nichts ändern können.«

      Pao-li schien gerne über die Hakka zu reden, denn seine Augen funkelten, wenn er immer wieder ihre Unabhängigkeit von den Mächtigen im Norden betonte. Doch dann schien er wie aus einem schönen Traum zu erwachen.

      Er erhob sich.

      »Wir sollten uns wieder auf den Weg machen, damit wir noch ein gehöriges Stück Wegs zurücklegen, ehe die Nacht anbricht.«

      Und van Delden musste sich sputen, um ihm auf den Fersen zu bleiben.

      Die mächtigen Bäume rund um den Talkessel warfen schon lange Schatten, als die beiden Wanderer am nächsten Tag endlich in T’ai-po eintrafen. Die Hütten des Dorfes schmiegten sich eng an den Hang. Auf dem Dorfplatz herrschte ein reges Treiben. Als sie näher kamen, erkannte van Delden, dass die Eingeborenen dabei waren, einen schweren hölzernen Tisch im Rund zwischen den Hütten aufzustellen.

      Am Eingang des Dorfes kamen ihnen Kinder und Hunde in bunter Mischung entgegengerannt. Während die Dorfköter die beiden Ankömmlinge mit wildem Kläffen begrüßten, starrten die Kinder die zwei nur stumm aus großen Augen an. Huang Pao-li vertrieb die Hunde mit einigen Fußtritten und Steinwürfen und verscheuchte die Kinder durch wenige, rasch hingeworfene, zornige Worte, die der Holländer nicht verstehen konnte.

      Sie kamen auf den Dorfplatz.

      Van Delden fiel sofort die unverhältnismäßig große Zahl an uralten Männern auf, deren weiße strähnige Bärte fast bis zu den Knien reichten. Doch trotz des hohen Alters schauten ihre Augen noch wachen Sinns in die Welt. Er machte Pao-li darauf aufmerksam.

      Dieser lachte selbstgefällig.

      »Es gibt mindestens noch ebenso viele alte, ja steinalte Frauen im Dorf«, erklärte er. »Aber sie stecken in den Hütten und kommen erst am Abend, nach Sonnenuntergang heraus.«

      Ehe sie sich versahen, war die Sonnenscheibe hinter den Berggipfeln verschwunden. Die Dämmerung wich rasch einer sternklaren Nacht; im Talkessel herrschte Dunkelheit, die von einem kleinen Holzfeuer auf dem Dorfplatz nur ungenügend erhellt wurde.

      Alle Erwachsenen des Dorfes hatten sich inzwischen auf dem Platz versammelt. Der Holländer erblickte viele von den alten Frauen, die Pao-li erwähnt hatte; es schien ihm sogar, als gebe es mehr alte als junge Menschen hier versammelt. Alle umlagerten den mächtigen Tisch.

      Huang Pao-li verabschiedete sich von seinem europäischen Gefährten mit dem Hinweis, dass er selbst auch diesmal nicht an dem magischen Zeremoniell teilnehmen könne. Pieter van Delden suchte sich daher einen Platz direkt neben dem Tisch, die Dorfbewohner wichen fast scheu vor ihm zurück. Nun, da er der Verwirklichung seines Traumes so nah war, wollte er aber auch keine Einzelheit versäumen!

      Unter