Jörg Weigand

Die Welten des Jörg Weigand


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sein Instrument zu bearbeiten; die Schläge mit der flachen Hand auf das gespannte Fell mündeten in einen Rhythmus, der van Delden langsam und schnell zugleich schien. Ein leises Raunen ging durch die versammelte Menge, die Menschen wandten ihren Kopf alle in die gleiche Richtung.

      Der Zauberer war da!

      Sein Gesicht steckte hinter einer hölzernen geschnitzten Drachenmaske, über die der spärliche Lichtschein des Feuers hin und her huschte und bizarre Schatten malte. Der Zauberer trug ein kleines irdenes Gefäß in der Rechten, aus dem ein betäubender Duft aufstieg, der sich in Windeseile über den ganzen Platz verteilte. Myrrhe und Zinnober, eine seltsame Mischung!

      Hinter dem Dorfzauberer zerrten zwei Gehilfen einen riesigen Affen auf den Platz. Van Delden hatte den starken Eindruck, dass sich das Tier heftig sträubte, als wisse es, was auf es wartete. Einmal gelang es dem Affen fast, sich loszureißen. Der Holländer erkannte nun, dass das Tier praktisch die Größe eines ausgewachsenen Menschen erreichte.

      In dem Bemühen, sich von den Fesseln und aus den Händen seiner Peiniger zu befreien, fiel der Blick des Affen auf den wie gebannt zuschauenden Europäer. Der tiefe Schmerz, der ihn aus den Tieraugen traf, was für van Delden wie ein Schlag. Der Affe schürzte die Lippen, bewegte den Mund, als wollte er dem ausländischen Gast im Dorf eine Botschaft mitteilen. Doch obgleich er sich verzweifelt wehrte, war sein Widerstand schnell gebrochen; die Gehilfen des Zauberers schleppten das Tier unter den Tisch.

      Der Tisch besaß in der Mitte ein kreisrundes Loch, groß genug, dass der Kopf des Affen hindurchpasste. Das Tier wurde mit allen vier Gliedmaßen so unter der Tischplatte festgebunden, dass lediglich der obere Teil des Schädels – etwa bis zu den Augenbrauen – aus dem Loch hervorsah.

      Unterdessen hatte der Trommler die Szene im Halbdunkel ununterbrochen leise begleitet. Nun ließ er ein heftiges, aufpeitschendes Stakkato folgen. Der Zauberer trat näher und ließ sich von einem seiner Gehilfen eine Säge mit feinem Blatt reichen. Er beugte sich über den Tisch, während die Umstehenden zum Trommelwirbel verschiedene magische Formeln rezitierten; van Delden verstand davon natürlich keine Silbe, doch der beschwörende Inhalt wurde auch so deutlich genug.

      Mit geübten Bewegungen sägte der Zauberer die Hirnschale des Affen auf. Vorsichtig nahm er den abgesägten Knochenteil beiseite. Unter dem entfernten Knochendach konnte van Delden das pulsierende Gehirn erkennen.

      Da also war sie, die Verheißung eines langen Lebens! Gier erfasste ihn. Er wollte auch daran teilhaben! Er wollte auch länger leben! Er wollte auch davon essen!

      Der Magier hatte einen kleinen Holzlöffel mit langem Stiel ergriffen, durchstach damit die das Hirn umhüllende Haut und fuhr in die pulsierende Masse. Erst nachdem er so den Anfang gemacht hatte, folgten die Dorfbewohner mit ihren Löffeln, die sie griffbereit in den Händen hielten.

      Pieter van Delden sah mit einem Mal den Dorfzauberer vor sich. Er hielt ihm den langstieligen Löffel hin.

      »Der erste Bissen!«, sagte dieser mit dumpfer Stimme, die durch die schwere Holzmaske bis zur Unkenntlichkeit verzerrt wurde. »Der erste Bissen gebührt wie immer unserem Gast. Möge es dir das verleihen, was du dir und was wir uns wünschen.«

      Hastig griff der Holländer nach dem Löffel und verschlang das Stückchen Hirn.

      »Und nun noch der rituelle Schluck, der dir die Erkenntnis unserer Zeremonie vermitteln wird«, sagte der Zauberer drängend und hielt ihm eine Flasche entgegen.

      Dieses aufdringliche Gehabe schreckte van Delden ab, doch war seine Gier größer als die angeborene und anerzogene Vernunft. Er fasste gehorsam die irdene Flasche und nahm einen tiefen Schluck daraus.

      Es war wie ein Schock, ein Blitzschlag in seinem Magen. Das fremde Gebräu schien in ihm zu explodieren, Eiseskälte und Gluthitze wechselten sich in schneller Folge ab. Tränen schossen ihm in die Augen, er japste nach Luft, sein Gehirn schien sich zusammenzukrampfen. Mit verzweifelter Anstrengung riss er seine Augen wieder auf.

      Der Zauberer stand vor ihm, er hatte sich die Drachenmaske vom Gesicht genommen. Dem Holländer verschwamm alles vor den Augen. Irritiert fragte er sich, wie der Zauberer auf einmal wie Huang Pao-li aussehen konnte, wie ein Huang Pao-li, der mit einem triumphierenden Grinsen vor ihm stand.

      Dann versank seine Umgebung in einem dichten Nebel. Pieter van Delden versank in tiefem Schlaf.

      Das Erwachen geschah in Etappen, lichte Momente wechselten mit Augenblicken ohnmächtigen Schlafs. Schließlich aber riss der Nebel vor seinem Gesicht auf. Er kam zu sich.

      Er setzte sich auf. Verständnislos blickte er um sich.

      Er befand sich in einem Käfig. Dicke Bambusstangen rings um ihn bildeten eine undurchdringliche Barriere zur Außenwelt. Er war gefangen, steckte hinter Gittern.

      Verhaltenes Gemurmel ließ ihn aufmerksam werden. Er beugte sich vor, richtete sich noch mehr auf, starrte durch die Bambusbarriere hindurch. Links, etwas im Hintergrund, stand eine kleine Gruppe Menschen, Hakka, die sich dem Käfig nun gemächlich näherte. Huang Pao-li befand sich unter ihnen. Er trat als Einziger bis an die Bambusstäbe heran.

      »Bist du nun zufrieden, Holländer?«, fragte er höhnisch. »Habe ich nicht als Zauberer des Dorfes gehalten, was ich dir als Fremdenführer in Hongkong versprochen habe?«

      Wut wallte in van Delden hoch, dass er daran zu ersticken drohte. »Du Betrüger, du Lump!«, wollte er schreien, doch es kam nur ein dumpfes Heulen aus seiner Kehle.

      »Sei nicht so undankbar«, lachte Huang erneut, als habe er verstanden, was der Europäer ihm entgegenbrüllen wollte. »Wolltest du nicht an der Zeremonie teilnehmen und erkennen, worin ihr Geheimnis besteht? Nun, die Gelegenheit hast du gehabt und hast sie genutzt. Und bald, sehr bald wirst du auch das lange Leben, ja die Unsterblichkeit erlangt haben – durch uns.«

      Er lachte spöttisch auf und wandte sich ab. Für ihn war die Angelegenheit erledigt.

      In ohnmächtiger Wut sprang der Gefangene auf und packte die Bambusstäbe, die seinen Käfig bildeten. Doch so sehr er auch daran rüttelte, sie gaben nicht nach. Ein Entrinnen war unmöglich. Sie hatten ihn in ihrer Gewalt.

      Das Denken fiel ihm schwer. Was hatte Huang mit seinen Worten sagen wollen?

      Sein Blick fiel auf seine Hände, die immer noch das Gitter gepackt hielten. Er erschrak.

      Feiner Flaum, einem Pelz gleich, spross auf beiden Handrücken. Er sah an sich hinab. Außer einigen zerlumpten Fetzen trug er nichts mehr. Der Flaum war überall, am ganzen Körper.

      Der Trank!

      Es musste das scharfe Gebräu gewesen sein, das er zuletzt getrunken hatte. Machte es etwa auf eine ganz geheimnisvolle Weise aus Menschen …

      Er ließ sich, wo er war, zu Boden fallen. Resignation überschwemmte ihn.

      Jetzt verstand er auch, was ihm der sich verzweifelt wehrende Affe hatte mitteilen wollen.

      Mandragora (1975)

      Die Suche nach der magischen Untermauerung menschlichen Seins ist so alt wie die Menschheit selbst. Eine lange Tradition also. Doch wer diesem Drang nachgibt …

      Zum wiederholten Mal hatte ich mir das rechte Knie an einem vorstehenden Felsbrocken blutig gestoßen, und mein Anzug war sicherlich auch bereits von oben bis unten voller Dreck. Da kroch ich in einer stockfinsteren Nacht auf allen vieren auf dem Erdboden herum und versuchte, diese verdammte Wurzel zu finden, die ich so dringend brauchte.

      Mandragora nennt sie der Lateiner; im Volksmund kennt man sie eher unter dem Namen Alraune, ein geheimnisvolles, sehr seltenes Gewächs, das gewiss in absehbarer Zeit ausgerottet sein wird. Denn wo werden heute noch zum Tode Verurteilte gehenkt? Zwar ist noch nicht überall die Todesstrafe abgeschafft, doch dort, wo sie weiter ausgeführt wird, greift man eher zur Giftspritze oder jagt Stromstöße durch den Körper des Verurteilten; in Militärdiktaturen bevorzugen die Machthaber nach wie vor das Erschießungskommando.

      Aber Hängen? Der Galgen mit seiner eindrucksvollen Silhouette gegen den