Ларс Соби Кристенсен

Herman


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nicht so«, sagt Glenn und rückt näher. Glenn trägt einen Pony und eine Zahnklammer und behauptet, daß er Glas essen kann.

      »Zettel? Ach, der Zettel! ’ne Einkaufsliste für meine Mutter.«

      Jetzt ist die Lippe groß wie eine Badewanne, es ist so gut wie unmöglich, sie an ihrem Platz zu halten.

      »Wir durchsuchen ihn!« ruft Karsten.

      In Null Komma nichts sind alle Taschen umgestülpt. Björnar hält den Metallkamm hoch, Karsten winkt mit einem Fünfer, und Glenn hat den Zettel gefunden.

      »Magst du rotes Haar? Gruß, Ruby«, johlt er, und es fehlt nicht viel, daß seine Zahnspange herausspringt.

      Und dann ist das Lachen wieder da, alle werden angesteckt und sind für eine ganze Weile krank, und Pappe ist immer noch nicht aufgetaucht. Das Lachen ist schlimmer als Masern und Windpocken zusammen, denkt Herman. Doch plötzlich sind alle wieder gesund. Glenn hält ihn fest am Arm.

      »Magst du rotes Haar, Herman?«

      Herman schaut auf seine Schuhe und atmet schwer. Björnar drückt ihm den Metallkamm wie eine Pistole zwischen die Augen.

      »Magst du rotes Haar?!«

      »Das Schlimmste, was ich mir denken kann«, sagt Herman, und die Unterlippe schleift über den Boden, und widerliche Tiere, die er nicht ausspucken kann, klettern in seinen Mund.

      »Sag, daß Ruby häßlich ist.«

      »Ruby ist häßlich.«

      »Sag, daß Ruby ein Vogelnest in ihrem Heuhaufen hat!«

      Herman fummelt an seinem Herbarium herum, das immer noch nicht fertig ist, in seinem Kopf juckt es.

      »Ruby hat ein Vogelnest im Heuhaufen.«

      Glenn läßt Herman los, und Karsten stellt sich hinter ihn.

      »Jetzt mußt du sterben!«

      »Jetzt muß ich sterben«, wiederholt Herman.

      »Was ist dein letzter Wunsch?«

      »Den Kamm wiederzukriegen.«

      Björnar grinst und legt den Metallkamm ins Herbarium. Karsten paßt an der Tür auf, und Glenn schiebt ein Stück Pappdeckel unter Hermans Pullover. Und dann sticht Björnar ein Messer hinein, so daß es auf der Brust stehen bleibt.

      »Er kommt!« flüstert Karsten.

      »Leg dich hin! Du bist tot!«

      Herman legt sich zwischen die Bänke und schließt die Augen. Kurz darauf steht Pappe da. Pappe ist dünn wie eine Rhabarberstange, und er hat riesige, durchsichtige Ohren. Bei Wind muß er sie mit einem Weckgummi festbinden, um nicht wegzuwehen. Er bleibt stehen und schaut sich um, verwundert, denn alle sind ganz still, und das ist Pappe nicht gerade gewohnt. Schließlich entdeckt er Herman. Pappe muß sich am Türrahmen festhalten, dann stürmt er durch den Raum, kippt zwei Leimeimer um, wedelt mit den Armen und schreit. Neben Herman wirft er sich hin, will das Messer herausziehen, traut sich aber nicht, es anzufassen. Herman liegt ganz still und stellt fest, daß Pappe nach Parfüm riecht, vielleicht ist es auch nur der Leim.

      »Was ist passiert!« brüllt Pappe.

      Keiner antwortet. Pappe beugt sich wieder über ihn, und Herman hat Lust zu niesen, aber es ist womöglich nicht so geschickt zu niesen, wenn man ein Messer im Herzen hat.

      »Herman, hörst du mich? Hier ist Fredrik Johansen, hörst du mich, Herman?«

      Herman hört ihn sehr gut, weiß aber nicht, ob er antworten soll. Vielleicht ist es das beste zu warten, bis Pappe ruhiger geworden ist.

      »Holt die Krankenschwester!« schreit er. »Holt die Krankenschwester!«

      Aber keiner rührt sich, und keiner sagt etwas. Pappe nimmt Hermans Hand und legt sein riesiges Ohr auf Hermans Mund. Das kitzelt.

      »Herman . . . Herman . . . beweg dich nicht . . . Hilfe ist schon unterwegs . . . du lebst . . . bleib ganz ruhig . . . Herman . . . wie geht es dir . . .?«

      Herman öffnet die Augen und sieht genau in das Ohr von Pappe, von innen sieht es wie eine riesige Miesmuschel aus.

      »Danke, man kann nicht klagen.«

      Pappes Gesicht verschließt sich, er schaut sich verwirrt um, aber alle gucken woanders hin und fangen an, einen Marsch zu pfeifen. Herman steht langsam auf und geht zu seiner Bank, er zieht das Messer heraus, und das Pappstück fällt auf den Boden.

      Da gibt es keinen mehr, der richtig pfeifen kann. Das Lachen strömt aus den Gesichtern, daß sich die Wände biegen. Doch plötzlich lacht keiner mehr, denn sie hören ein anderes Geräusch, das ihnen angst macht und sie erschreckt. Pappe kniet auf dem Boden, und er weint, er versucht gar nicht, es zu verbergen, seine Hände hängen senkrecht neben dem staubigen Kittel herunter, und er weint.

      Auf dem Weg nach Hause hat Herman fast vergessen, daß er zum Friseur soll. Er hat viel mehr Lust, das Schiff nach Australien zu besteigen oder zumindest die Straßenbahn ganz bis zur Endstation. Unterwegs sieht er die Dame, die fast nicht gehen kann, weil sie Ameisen in den Beinen hat. Er hat von Leuten mit Flöhen im Blut gehört, aber das hier muß schlimmer sein. Sie benutzt zwei Krükken und hüpft vorwärts, während sich der ganze Körper schüttelt. Herman überlegt, wie die Ameisen es wohl geschafft haben, in ihre Beine zu kommen. Vielleicht hat sie sie durch ein Mißgeschick verschluckt. Sie sieht sehr traurig aus, und Herman geht immer auf die andere Straßenseite, wenn er sie trifft.

      In der Bygdöy-Allee prasseln die Kastanien auf den Asphalt, er sammelt eine Ladung ein und packt sie in seinen Ranzen. Es kann nützlich sein, sie zu haben, besonders im Winter. Dann betritt er den Friseursalon.

      Es ist eigentlich ganz schön, zum Dicken zu gehen. Der Dicke hat immer nasses Haar und einen schmalen, schwarzen Bart. Das beste ist, wenn er auf die Pedale tritt und der Stuhl höher und höher steigt; so kommt Herman einem Kranführer schon ziemlich nahe. Und es ist schön, die Kämme anzugucken, die in blauem Wasser stehen, und die Reklameplakate für Haarcreme und Pomade mit Bildern von Liebespaaren, die Wellen im Haar und hübsche Gesichter haben.

      »Und wie möchtest du es heute haben?« fragt der Dicke, nachdem er fertig gepumpt hat und sich den Schweiß abwischen kann.

      »Ich glaube, so wie mein Bruder.«

      »Und wie hat dein Bruder es?«

      »Hab’ gar keinen Bruder!«

      Beide lachen lange, und der Dicke schärft eine Schere, greift mit den Fingern in Hermans Haar und fängt an zu schneiden, während er eine bekannte Melodie aus dem Wunschkonzert singt, aber zum Glück ist es kein Kirchenlied.

      Es ist ganz merkwürdig, in den Spiegel zu sehen, denn an der Wand hinter Herman ist auch ein Spiegel, dort, wo die Damen mit den Astronautenhelmen sitzen. Herman kann sich selbst im Friseurstuhl in Hunderten von Räumen sehen, die immer kleiner werden und in einem Punkt verschwinden, nicht größer als eine Fliege. Komische Dinge gibt es beim Friseur, es gibt auch eine Fußstütze und Krepppapier um den Hals, das kratzt, und ein riesiges Lätzchen, das bald von hellem Haar bedeckt ist. Vielleicht sollte man Barbier werden? Jedenfalls lieber als Papierwerklehrer.

      Mit einemmal hört der Dicke auf zu schneiden. Herman beugt den Kopf nach hinten und sieht in seine Nasenlöcher, in jedem ist für mindestens acht Kastanien Platz. Der Dicke rückt Hermans Kopf wieder zurecht, macht ein paar rasche Schnitte mit der Schere, doch dann hört er wieder auf und schaut auf Hermans Kopfhaut. Herman hat schon oft überlegt, wer wohl dem Dicken die Haare schneidet oder wer dem Zahnarzt die Zähne zieht und wer dem Arzt den Blinddarm herausschneidet. Aber es ist merkwürdig, daß der Dicke so lange dasteht und herabstarrt. Herman wird langsam ängstlich. Vielleicht hat er so viel abgeschnitten, daß er die Gedanken in Hermans Kopf sehen kann? Das wäre nicht so gut.

      Endlich richtet der Dicke sich auf, angelt einen nassen Kamm und teilt das Haar mit einem schnurgeraden Scheitel.

      »Wollen wir sagen, so ist es in Ordnung, Herman?«