Ларс Соби Кристенсен

Herman


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Frogner-Park – zwischen den Mahlzeiten. Es ist mir direkt in den Mund gefallen.«

      »Du hast es doch wieder ausgespuckt?«

      »Später. Hast du auch mal Blätter gegessen, Mutter?«

      »Ich hab’ mal Harz gegessen. Aber das ist schon lange her. Bevor du geboren wurdest.«

      »Wir schaffen es schon«, sagt Herman.

      Mutter streicht ihm durchs Haar, und hinterher untersucht sie ihre Finger. Es ist merkwürdig, wie sie sich aufführt. Herman schließt die Augen und tut, als schliefe er. Aber nachdem sie das Licht gelöscht und die Tür geschlossen hat, steht er auf, geht zum Fenster und guckt unter dem Rollo hinaus. In der Hand hält er eine Kastanie, der Globus schimmert dunkelgelb, und an dem schwarzen Himmel ist der Mond weiß und rund zu sehen. Vielleicht ist der Mond das eine Auge vom Wind, denkt Herman. Dann wäre der Wind ein Seeräuber mit einer Klappe über dem anderen Auge.

      Er kriecht ganz tief unter die Bettdecke und fürchtet sich ein bißchen davor, morgen mit Mutter zum Arzt zu gehen. Beim Arzt riecht es immer gefährlich. Aber jedenfalls kommt er darum herum, morgen zur Schule zu gehen. Vielleicht ist Mutter krank an der Zeit, denn sie sagt immer, sie hat so schlecht Zeit. Herman hört, daß sie im Wohnzimmer leise redet, als hätte sie ein Geheimnis. Und nach einer Weile kann er hören, daß Vater die Flasche holt, die ganz oben im Speisezimmerschrank steht, obwohl heute doch bloß Dienstag ist. Vielleicht muß er sich jetzt an einem Mittwoch den Finger in den Hals stecken.

      Kurz bevor er einschläft, beschließt Herman, daß er sich in dieser Nacht seine Träume merken will. Doch alles, woran er sich danach erinnert, ist der Mond, Großvaters Glatze und die Kastanien. Und das ist kein Traum.

      Kapitel 4

      Als Mutter ihn weckt, hat er immer noch eine Kastanie in der Hand. Aber der Mond ist vom Himmel heruntergerutscht, und Vater ist schon lange zur Baustelle gezogen. Die Uhr zeigt bereits nach zehn. So lange hat Herman mittwochs nicht mehr geschlafen seit dem Sommer, in dem er schwimmen lernte und Windpocken bekam. Mutter trägt ein blaues Kleid mit weißen Punkten, und sie bringt ihm das Frühstück ans Bett, eine Scheibe Toastbrot mit Orangenmarmelade ohne Schalen und Beuteltee direkt aus Indien. Sie sieht nicht sehr krank aus, und sie hat jedenfalls nicht zuwenig Zeit. Doch dann bringt sie ein großes Glas Wasser und bittet Herman, es langsam auszutrinken.

      »Der Arzt wird eine Urinprobe nehmen«, sagt sie. »Versuch es auszuhalten, bis wir dort sind.«

      »Was will er damit?«

      »Alle, die zum Arzt gehen, müssen dort pinkeln.«

      Herman trinkt die Hälfte und gibt Mutter den Rest.

      »Am besten nimmst du auch einen Schluck.«

      Mutter leert das Glas in vier Schlucken, und hinterher paßt sie genau auf, wie er sich wäscht. Und er muß die grauen Hosen anziehen, die kratzen, und das Hemd, das er sonst nur am Nationalfeiertag und zu Weihnachten anzieht. Es ist seit dem letzten Mal enger geworden. Gut, das zu wissen. Zum Schluß stellt Mutter sich hinter ihn hin und kämmt ihn mit ihrer eigenen Bürste, die einem vertrockneten Igel ähnelt. Herman zieht den Metallkamm hervor, aber da bekommt sie wieder so ein merkwürdiges Gesicht und schiebt ihn auf den Flur, wo seine Jacke bereithängt.

      »Rate mal, was wir heute zum Mittag haben werden!« sagt sie schnell.

      »Brackhaten und Rakotten?«

      »Nein!«

      »Frischfikadelle und Martoffelkus?«

      »Nein!«

      »Dann geb’ ich auf.«

      »Hähnchen!«

      Herman muß fast den ganzen Weg zum Arzt an das Hähnchen denken. An so einem Mittwoch kann viel passieren. Er hält Mutter am Arm, sie trägt ganz glatte Handschuhe und einen Hut auf dem Kopf. In der Bygdöy-Allee fallen die Kastanien noch immer wie grüne Bomben. Die Bäume sehen plötzlich traurig aus, sie sind jetzt fast nackt, sicher frieren sie, wie sie so in Reih und Glied stehen. Herman vergißt für eine Weile das Hähnchen und denkt an Großvater. Friert er auch? Friert er in seinem Himmelbett?

      Der Arzt hat seine Praxis genau neben dem Kino. Diese Woche läuft Zorro.

      »Vielleicht nimmt Vater dich ja am Samstag mit in die Fünf-Uhr-Vorstellung«, sagt Mutter.

      »Vielleicht?«

      »Ganz bestimmt!«

      Herman ist von all diesen Neuigkeiten so durcheinander, daß er tun muß, als sei er ein Pferd. Er galoppiert über den Bürgersteig und schnaubt durch die Nase, und fast springt Zorro vom Plakat und schließt sich ihm an. Aber als sie das Treppenhaus des Arztes betreten und die schiefen Stufen hochsteigen, vergißt er Zorro und das Hähnchen, und auch Mutter ist nicht so fix da oben unterm Hut, ein Ausdruck, den Vater immer verwendet, wenn er von einem Länderspiel gegen Schweden kommt. Es riecht schlimmer als schlimm, alte Blinddärme, amputierte Füße in Spiritus, erfrorene Fingerspitzen und Spritzen. Herman bleibt jäh stehen und preßt sein Gesicht in Mutters Mantel.

      »Aber Herman, was ist denn?«

      »Ich will nicht!«

      »Es ist nicht gefährlich. Der Arzt soll uns nur mal angucken. Weißt du, was wir zum Nachtisch haben?«

      Herman kommt aus dem Mantel hervor, schaut zu Mutter hinauf, und ihm wird fast schwindlig, denn jetzt ist sie doch wieder ganz fix oben unter ihrem Hut. Es ist eigentlich traurig, daß er nie Kranführer werden kann.

      »Vielleicht Uckerzei?« schlägt er vor.

      »Nein!«

      »Kannpfuchen?«

      »Nein!«

      »Ich geb’s auf.«

      »Eis!«

      Das muß sorgfältig geplant werden. Er darf nicht zuviel Hähnchen essen, sonst schafft er nicht mehr genug vom Eis. Er faßt Mutter bei der Hand und hält sie fest.

      »Hab keine Angst. Es wird schon gutgehen.«

      Sie öffnet die Tür zum Wartezimmer, und Herman verliert alles, was Appetit heißt, nicht mal ein Finderlohn würde helfen. Da drinnen sitzen sehr kranke Menschen auf wackligen Stühlen, starren giftgrüne Wände an und pressen so fest ihre Hände zusammen, daß es verbrannt riecht. Mutter findet in der Ecke Platz – es ist still wie im Grab, wie Großvater immer sagt, wenn er von Großmutter erzählt. Neben Herman sitzt ein trauriger Mann, der fast keinen Kopf mehr hat. Eine Dame mit nur einem Arm und Schnurrbart schmiert sich Lippenstift auf den Mund und trifft jedesmal daneben. Und mitten im Zimmer steht ein Straßenbahnschaffner, der einen Finger verloren hat. Die Wände sind voll mit Plakaten, auf denen dicke Krankenschwestern riesige Spritzen und Lebertranflaschen, größer als der Monolith im Park, zeigen. Herman muß sich die Augen zuhalten, doch er sieht immer noch durch die Finger. Plötzlich geht die Tür auf, und ein Polizist hinkt heraus, sicher konnte er gut gehen, als er kam. Herman legt sein Gesicht in den Schoß und tut, als träume er, aber an diesen Traum will er sich auf keinen Fall erinnern.

      Mit einemmal wird es ganz still, stiller als im Grab, es ist so still, daß sie die Zeit auf einer Damenarmbanduhr in Tokio verstreichen hören können. Herman muß einen Blick riskieren, er hebt ein Auge und sieht, daß der Doktor in der Tür steht und seine Knöpfe zählt. Alle im Wartezimmer starren in eine andere Richtung, und jetzt ist es so still, daß sie hören können, wie ein Augustapfel draußen auf der Nesodden-Halbinsel ins Gras fällt. Aber gleich danach gibt es Lärm. Der Doktor zieht ein Laken hervor und putzt sich die Nase, bis sie blank ist, während er laut ruft, um sich selbst zu übertönen:

      »Fulkt als nächste!«

      Mutter muß Herman ins Sprechzimmer schleifen, die Tür wird geschlossen, und es gibt keinen Weg zurück. In der Ecke neben der Tür steht eine Sprechstundenhilfe, die die ganze Zeit hustet und versucht, gleichzeitig zu lächeln. Das ist schwierig. In der anderen Ecke steht ein Schrank mit einem frisch geschärften Schwert darin und Bandagen. In der dritten