übernommen?
Auf Mouhots Fragen, die Phnom Pe übersetzte, schüttelten die Eingeborenen des letzten Dorfes den Kopf. Nach Norden träfen sie keine Menschen mehr. „Drüben beginnt das Reich der Geister!“ warnten sie. „Aus der vergessenen Stadt kehrte noch kein Mensch zurück!“
„Sehen wir die Tempel bald?“ hatte Mouhot erregt gefragt.
„An klaren Tagen sieht man in der Ferne über dem Urwald dunkle Pagoden – dann verschwinden sie wieder, als tauchten sie nur wie Geisterhäuser aus dem Dschungel auf. Es führt kein Pfad dorthin – hütet euch vor der Rache der Geister!“
Mouhot, der Franzose, fürchtet keine Geister. Trotzdem ist ihm unheimlich zumute. Wolken verhüllen die Sonne. Woran sollen sich die Suchenden orientieren? Bald wird es Nacht sein. Vielleicht haben sie die Nordrichtung verlassen und gehen längst nach Osten oder Westen? Ist die Spur, der sie nun folgen, nur eine Wildfährte?
„Du vertraust mir nicht mehr, Monsieur?“ Phnom Pe spricht einige Worte Französisch. „Wir werden Angkor finden!“
Der Malaie kennt Mouhots Gedanken, ohne sich umzuwenden. Der junge Forscher beißt die Zähne zusammen. Fürchtet er schon selber die Geister?
„Es wird Abend – suchen wir ein Lager!“ befiehlt er kurz.
Ein Nachtlager im dichten Hinterindien ist immerhin gefährlich. Phnom Pe sammelt abgestorbene Äste, um vor dem Zelt ein Feuer zu entfachen, das den Tiger abhält. Die Flamme qualmt; sie reicht kaum aus, das Teewasser im Kessel zum Brodeln zu bringen. Ungekocht darf kein Schluck Wasser getrunken werden.
Henri Mouhot schreibt seine Aufzeichnungen in das Tagebuch. Seine Hand zittert. „… Ich bin sehr erschöpft; die Beine versagen den Dienst. Gebe Gott, daß wir morgen die Stadt im Urwald finden…“
Am nächsten Morgen kauert Phnom Pe wieder vor dem Zelt und bläst geduldig in die Asche, bis die erste Feuerzunge an dem Moderholz emporleckt. Er weist zum Himmel über dem dichten Blätterdach empor. „Siehst du die Sonne, Monsieur? Jetzt scheint sie auf die Tempel von Angkor! Wir werden sie finden, heute noch!“
Über dem dichten Laub nimmt die Helle zu. Mit einem Schlag fallen neue Schwaden von Hitze herein. Südlich des Phnom Koulen-Gebirges scheint nie ein Windhauch zu wehen. Mouhot steckt eine Messerspitze Chinin in den Mund. Vielleicht ist es nur die Hitze, die plötzlich über ihn fällt, und doch kein Fieber.
Heute soll der Urwald im Tiefland von Kambodscha sein Geheimnis lüften! Dann wären seine Pariser Studien, seine Forschungen über Indochina nicht vergebens gewesen! Die Berichte des chinesischen Reisenden Chou-Ta-kwan aus dem 13. Jahrhundert hätten sich bestätigt, und die Welt stünde vor einer sensationellen Entdeckung!
„Gehen wir!“ drängt Mouhot rauh.
Das letzte Zeichen einer Spur ist zu Ende. Baumhohe Farne bedecken den weichen Moderboden. Phnom Pe sichelt sie nieder wie ein Mäher in Europa die Grasmahd. Auf einmal springt er zurück. Eine mächtige Riesenschlange liegt zusammengerollt unter den fiedrigen Riesenfarnen. Die Python hebt kaum den breiten Kopf; eine Stelle des dicken Schlangenleibes ist klumpig angeschwollen; ein Nabelschwein oder ein größeres Nagetier ist ihre Beute gewesen. Nun liegt die Schlange in träger Verdauungsruhe.
Die Männer bewegen sich vorsichtig weiter. Henri Mouhot blickt sich um. Finden sie durch das Blattgewirr auch wieder zurück? Der malaiische Führer sucht stets die Stellen höheren Waldes und meidet die feuchten Bambusdickichte.
Vor Mouhots Augen beginnt es gefährlich zu flimmern. Hühnervögel krächzen unsichtbar in den Baumkronen. Vor ihm rascheln über den Boden große, huschende Mäuse hin. Oder sind es Ratten – hier, mitten im Urwald?
Plötzlich steht ein Wald von Bambus vor den Männern. Jedes Rohr muß mit kräftigen Hieben durchgehauen werden. Sie kommen nur Schritt um Schritt voran. Henri Mouhots Finger umschließen den Kris. „Laß mich jetzt, Phnom Pe!“
Verbissen schlägt er eine Weile, die schmale Schneise in dem Bambus vertieft sich. Erst als sein Arm wie gelähmt ist, läßt er nach. Es dunkelt vor ihm. Ein überraschter Ausruf – er taumelt zurück.
Ein versteinerter Wald wächst vor ihm in den Himmel! Grau verwittert wie der Stumpf eines uralten Baumriesen ragt ein Turm über den Bambus und Dschungel hinaus.
„Angkor-Wat – die vergessene Stadt!“ flüsterte Henri Mouhot tonlos. Das Bild verschwimmt. Oh, Gott! Nur jetzt nicht zusammensinken! Phnom Pe springt hinzu und stützt den Erschöpften.
„Die Stadt im Dschungel, Monsieur! Glauben Sie mir jetzt?“ lächelt der Malaie, als er die Erschütterung des Weißen sieht.
Mouhot öffnet wieder die Augen. Nichts ist Täuschung, alles steht vor ihm stumm und starr, altersgrau und wie unirdisch. Sein Blick gewöhnt sich an Einzelheiten. Ein leuchtender Gecko huscht über den verwittert aufgerauhten Schlammstein. Struppige Schlinggewächse überwuchern den Fuß des Tempelturmes. Auf halber Höhe wachsen Büsche aus den Spalten der Mauern. Das Reliefgewirr nimmt allmählich Gestalt an. Henri erkennt das mehrere Meter hohe Gesicht der volkstümlichsten aller Buddhafiguren, des Bodhisattva-Avalokitesvara, mit dem breiten Lächeln bei fast geschlossenen Augen. Dem Buddhisten ist er der Inbegriff aller Barmherzigkeit. Sogleich arbeitet das Gehirn des Forschers wieder klar. „Ein Buddhatempel – wo liegt die Stadt, die wir suchen?“ wendet er sich an den Malaien.
Phnom Pe verzieht sein Gesicht. „Du glaubst mir noch immer nicht, Fremder?“ Der Boden senkt sich vor ihnen ein wenig. Der Kris zischt durch das weiche Schilf, das geräuschlos umsinkt. Nach einer Weile tritt Mouhot fester auf. Der nagelbeschlagene Schuh klirrt auf Stein. Als er sich niederbeugt und mit bebender Hast den Morast fortschiebt, stößt er auf quadratische Fliesen.
„Der Eingang in die Stadt der Tempel!“ flüstert der Malaie.
Vor ihnen liegt ein Berg von Geröll. Phnom Pe klettert über die trocken klingenden Steine empor. „Sehen Sie hier, Monsieur – und hier!“ Er hält triumphierend Stücke des roten Schlammsteins empor. Es ist eine Hand mit gekrümmten Fingern, die noch ein Stück Leitseil umklammern, hier der Zahn eines Elefanten aus Stein, hier ein Vogelkörper ohne Schwingen. Stolz lächelnd wirft er alles wieder auf das Geröll.
Henri Mouhot weiß nicht mehr, wohin er zuerst sehen soll. Dort winden sich Schlangen aus Stein, hier lächeln zerstörte Gesichter, dort taucht zerstückelt das Muster der Lotosblume auf – alles umkrallt von Wurzelkronen, zernagt von Jahrhunderten – vergessen.
Die Erschöpfung ist verflogen. „Weiter, weiter!“ drängt er. „Es muß noch mehr erhalten sein!“ Er blickt an der Pagode empor. Das Gesicht des Avalokitesvara lächelt abgründig und still.
Jenseits des hohen Geröllwalles wuchert wieder der Urwald. Palmen fächeln, der Riesenblattwuchs wilder Bananen füllt die Senke. Henri Mouhot wühlt sich hindurch und bleibt staunend stehen. Hinter den schlanken Urwaldbäumen Türme – Türme – Türme, soweit er schauen kann! Er zählt zitternd mit dem ausgestreckten Finger: „… achtzehn, neunzehn – zwanzig…!“
Mauern aus rotem Sandstein, zum Überquellen geschmückt mit Figuren, lehnen halb umgesunken und umfächelt von zart wehendem Farnkraut. Er erkennt Basreliefs von Säulen, die gewaltige Torbogen getragen haben mußten. Er sieht die Stümpfe zweier Türme, eingeschlossen von würgenden Luftwurzeln. Über allem quillt ein Licht- und Schattenspiel unter dem Urwaldlaub, als spielte die Flut eines grünen Meeres über versunkenem Grund.
Henri Mouhot fühlt sich hineingetaucht in die Tiefe der Jahrhunderte. Von Zeit zu Zeit läßt er sich auf einen Steinblock nieder und entwirft mit flüchtigen Strichen eine Zeichnung. Phnom Pe, der Malaie, folgt ihm wie ein Schatten.
Unter Henris Tritt löst sich ein Mauerstein und fällt hinab in die dunkle Tiefe. Der ganze Hügel gerät in Bewegung. „Fort, Monsieur, fort!“ zischt Phnom Pe und reißt den Forscher mit sich. Da bricht ein Gewölbe mit dumpfem Poltern durch.
Ein Gang zwischen zwei niedrigen Mauern wird sichtbar. Vorsichtig klettert Mouhot in die Tiefe hinab. Zum erstenmal nach Jahrhunderten fällt auch die Sonne wieder in die verschüttete