Franz Braumann

Der weiße Tiger - Abenteuer aus aller Welt


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      Wieder schrie er heiser und verzweifelt: „Hallooo, Michel!“

      Er horchte – keine Antwort. Schwere Regentropfen fielen jetzt.

      Plötzlich fühlte er unter seinen Füßen eine abgestorbene Wurzel, die ihn wie eine stützende Hand von unten trug. Sie hielt auch stand, als er sich keuchend näher an den Wurzelstock der Weide heranschob.

      Mit viel Mühe arbeitete sich Peter Semling aus dem Morast heraus. Langsam hoben sich auch die Weidenäste wieder aus der braunen Brühe. Wasserblasen stiegen auf, abgelöster Moorschlamm tauchte zur Oberfläche empor. Die Kälte schüttelte Semling, eine alte Wunde an der Schläfe brannte neu; aber daran durfte er jetzt nicht denken. Der kaum fußbreite Rasen um die Wurzeln sank langsam schon wieder unter Wasser.

      Ratlos schaute Semling um sich. Wohin sollte er springen? Und aus welcher Richtung war er überhaupt gekommen? Auf gut Glück sprang er wieder los. Vor ihm tauchte ein breiter Erlenbusch wie eine kleine, schwimmende Insel im Morast auf. Halb unbewußt erkannte er, daß die Dämmerung hereinsank. Er nahm sich keine Zeit zum Überlegen – er wußte nur, er mußte springen, weiter, weiter springen!

      Nach einer schier endlosen Zeit fand er unerwartet auf einem Felsklotz festen Halt. Er durfte stehenbleiben und um sich blicken. In der sinkenden Nacht breitete sich unüberschaubar um ihn schwarzer Sumpf.

      „Himmel, hilf! Ich darf nicht haltmachen, bevor ich das Ufer des Taigasumpfes erreiche!“ stöhnte Semling. Bebend vor Nässe und Kälte, raffte er von neuem seinen Packen und das Gewehr auf. Vor ihm trieb der Sturm auf dem offenen Wasser einige Büschel Gras dahin. Wenn er sich gegen die Richtung des Windes hielt, mußte er irgendwo drüben auf dem anvisierten Bergrücken ankommen, den die Freunde gesehen hatten, als sie noch beisammen gewesen waren.

      Er sprang Stunden um Stunden – vielleicht die halbe Nacht. Semling fühlte allmählich, daß der Boden fester wurde. Als er unter seinen Stiefeln Steine spürte, sank er erschöpft nieder…

      Trotz der nassen Kleider und der Kälte mußte Peter Semling in einen bewußtlosen Schlaf gesunken sein. Als er erwachte, fand er sich in Brombeerranken wieder. Er schnellte auf, aber er schwankte und sank wieder um. Hatte er Fieber? Es mußte schon bald Morgen sein. Über den Taigasumpf flatterten Nebel; der Wind blies immer noch eintönig.

      Wo war er jetzt? An dem jenseitigen Ufer des sumpfigen Hochplateaus? Oder hatte er in einem großen Bogen wieder den Bergrand erreicht, über den sie heraufgestiegen waren? Mühsam erhob er sich und humpelte über den Felsstreifen mit kurzem Gras hinauf. Aber auch oben verdeckten die Wolkenschwaden, die wie Nebel herabsanken, jede Sicht.

      Die Lebensgeister kehrten erst allmählich wieder zurück, als er einen Streifen Dörrfleisch aus dem Packen zog und daran kaute. Auch die fiebrige Hitze des Kopfes ließ nach. Sollte er einen Schuß als Signal für Michel Prank abfeuern? Er reinigte den Gewehrlauf und warf die feuchten Patronen aus der Kammer. Er lud von neuem und jagte einen Schuß in die Wolken.

      Nicht einmal der Hall des Schusses kehrte wieder. Kein Zeichen von dem Gefährten, kein Laut, kein Schuß aus der Ferne!

      Inzwischen war es heller Tag geworden. Die Sonne stand irgendwo hinter den treibenden Nebeln. Aus der Richtung ihres Aufgangs erkannte Peter Semling mit einer unfaßbaren Erleichterung, daß der Taigasumpf hinter ihm lag. Gegen Süden öffnete sich wieder steiniges, trockenes Land.

      Aber wo war Michel Prank? Hatte auch er sich verirrt und steckte irgendwo im Sumpf? Lebte er noch – oder…?

      Die feuchten Kleider zogen Peter Semling alle Wärme aus dem Leib. Als er jetzt den flachen Felsrücken hinaufwankte, erkannte er, daß er auf einer weit in den Sumpf hinausreichenden Landzunge stand. Rechts und links von ihr breitete sich noch weit nach Süden hin das Hochmoor aus, strauchüberwuchert, gefährlich.

      Peter Semling suchte mit den Augen den Horizont ab. Hinter einer der unzähligen Höhenwellen gegen Süden mußte der Kemtschik-Fluß strömen. Dort traf er auf seine Landsleute, die wolgadeutschen Kolchos-Bauern. Sollte er sich allein dorthin aufmachen und für Michel Prank Hilfe holen? Darüber aber konnten Tage vergehen; und wenn sich der Gefährte in Not befand, dann war vielleicht jede Hilfe zu spät.

      Allmählich kam die niedrige Sonne hinter den Wolken hervor. Die Nebel hoben sich vom Boden – nur fern im Osten wallte immer noch eine graue Wolkenfahne über dem Boden dahin. Sie trug eine dunklere Farbe als die weißen Nebel, die sich in Fetzen über dem Taigasumpf auflösten. Semling blickte schärfer hin: Der Nebel stieg von einer bestimmten Stelle empor – wie Rauch!

      Als Semling dies erkannte, rannte er schon keuchend höher über den kahlen Hang hinauf. Oben sah er es deutlich: Jenseits der weiten Sumpfbucht mußte ein Feuer brennen! Und wo ein Feuer entzündet war, dort mußten Menschen sein!

      Er spürte auf einmal neuen Lebensmut. Er fragte sich nicht, ob sein matter Körper dem vielleicht stundenlangen Kampf um einen Pfad durch niedriges Gestrüpp gewachsen war. Er rannte bis an den feuchten Rand des Sumpfes hinab, stürzte hin, erhob sich und kämpfte sich von neuem durch die Erlen- und Spiräenwildnis weiter.

      „Vielleicht ist es Michel Prank – sonst muß der Fremde mir helfen, ihn im Sumpf zu suchen!“ redete er atemlos vor sich hin.

      Wer konnte sich dort drüben aufhalten? Sie waren aus dem Tschajaund Jenisseital herauf keinem Menschen begegnet. Er dachte an einen jagenden Sojoten, den Eingeborenen von Tannu-Tuwa. Vielleicht saß ein Promyschlennik, ein Taigaräuber, ein Entsprungener aus einem Arbeitslager an dem rauchenden Feuer – einerlei, jeden wollte er zwingen, mit ihm Michel Prank zu suchen!

      Hügelauf und durch unzählige Mulden wühlte sich Peter Semling dahin. Wenn er den Rauch nicht mehr sehen konnte, überfielen ihn Angst und Trostlosigkeit.

      Von dem letzten Rücken aus sah er frei auf das niedrige Feuer. Ein Mann hockte davor – Michel Prank! Semling schrie und fing torkelnd zu laufen an. Sie trafen sich auf halbem Wege.

      „Du lebst noch!“

      Peter Semling fühlte neben dem Feuer, wie sich ein unerträglicher Druck von seinem Herzen löste. Michel Prank hatte den Taigasumpf trocken überquert, und das Feuer brannte bereits die ganze Nacht – ein Zielfeuer für den Gefährten. Jetzt zog er ihm die feuchten Kleider vom Leib und wickelte ihn in trockene Felle.

      Nach zwei Tagen erreichten die Jäger glücklich ihre Landsleute am Kemtschik-Fluß…

      Die vergessene Stadt

      Urwald – Urwald – Urwald!

      Seit einer Woche nichts als dichtester Dschungel, feuchte, dampfende Fieberglut, verschwimmendes Dämmern zwischen hohen Bäumen, als watete man auf dem Grund eines durchsichtigen, reglosen Wassers. Wenn der Blick einmal auf hundert Meter frei wird, steigt Nebel wie Rauch aus der Buschwelt, unter der das ganze Land erstickt und versunken daliegt.

      Henri Mouhot, der junge Forschungsreisende, lehnt sich erschöpft an den breiten Stamm eines Sagobaumes – aber bald schnellt er fort, denn sogleich überfallen ihn hundert rote Ameisen, die den Stamm hinauf wandern. Er schlägt die wimmelnden Knäuel von seiner Bluse, während er im Genick ihre ätzende Säure spürt.

      Phnom Pe, sein malaiischer Führer, lächelt nachsichtig.

      „Sie sind nicht giftig, Monsieur!“ Er schiebt den Forscher mit einem raschen Griff fort. „Weiter! Die Ameisen greifen an; sie lassen sich auf uns herabfallen!“

      Henri Mouhot läuft keuchend über fauliges Wurzelgewirr. Phnom Pe folgt ihm auf den Fersen. Wo der verwachsende Urwaldpfad sich ganz schließt, springt er voraus und schlägt mit seinem krummen Malaiendolch Zweige und Schlingpflanzen herab. Die scharfe Schneide zischt wie eine Schlange durch das Laubgewirr.

      Henri Mouhot befällt ein Unbehagen. Wohin führt ihn der schweigende Malaie? Als sie vor vierzehn Tagen von Battambang aufbrachen, um nach Siemreap am Tonlé-Sap, dem „Großen See“, zu gelangen, hatte Phnom Pe versprochen, daß sie nur fünf Tage zu wandern hätten, um zu riesenhaften Tempeln zu gelangen. Nun quälten sie sich bereits eine Woche durch den Urwald. Vor zwei Tagen trafen sie