Paul Keller

Ulrichshof


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Kennzeichen von Liebe und Treue, aber seine Gedanken kehrten bald zurück zu dem traurigen Kinde an seiner Seite.

      „Du siehst blass aus, Brigitte. Seit einem Jahr hast du gewiss nicht ein Pfund zugenommen. Das soll nicht sein bei einem dreizehnjährigen Mädchen. Du musst Honig essen, Brigitte, immer reinen Honig, der geht ins Blut, der heilt alles Kranke.“

      „Ich mag keinen Honig.“

      „Brigitte, ehe die Krankheit deiner Mutter kam, hat sie alle Tage Honig gegessen, und als ihr noch kleiner waret, Julius und du, hat euch die Mutter jeden Tag mit Honig gefüttert. Erinnerst du dich dessen nicht mehr?“

      „Ja, jetzt erinnere ich mich. Wir hatten eine weisse Honigdose aus Porzellan, da war ein Bienenkorb darauf gemalt. Ich werde jetzt alle Tage Honig essen. Was Mutter tat, war immer gut.“

      Die Chaussee stieg nun wieder bergauf, und Jakob Kabiczeks Rekordfahrt hatte ein Ende gefunden. Das langsame Knarren seines Kartoffelwagens klang nur undeutlich aus der Ferne.

      Tobias räusperte sich, hustete dann und holte tief Atem. Man merkte ihm an, er wollte etwas sagen, was ihm nicht leicht fiel.

      „Brigitte, ich glaube, dass es dir gar so schwer wird um die Mutter, das rührt von Julius her, der es dir so schwer macht.“

      „Julius ist mein Bruder, ich habe niemand ausser ihm.“

      „Und die Grossmutter?“

      „Die Grossmutter ist freundlich — wenigstens zu Julius — aber sie ist Vaters Mutter.“

      „‚Aber sie ist Vaters Mutter‘, das hast du von Julius. Es ist nicht dankbar von euch Kindern gegen die gute alte Frau, wenn ihr so seid.“

      Das Mädchen schwieg, und in ihr weiches Gesicht kamen jetzt Zeichen des Trotzes.

      Nach einer Weile sagte Tobias:

      „Und ich? Was bin ich für euer Leben? Gar nichts als eben nur der Mann, der eure Schularbeiten nachsieht?“

      „Du bist unser bester Freund! Du bist unser einziger Freund, Tobias, das sagt auch Julius.“

      „Das zu hören, macht mich glücklich,“ sagte der Alte leise und bewegt. Nach einer Weile lachte er ein wenig, schüttelte Brigitte am Arm und sagte: „Rat mal, Brigittchen, was der Julius für eine Note auf seine Klausurarbeit in Latein bekommen hat?“

      „Mangelhaft!“

      „Hoho! Ganz daneben geraten. ‚Gut‘ hat er bekommen. Nur einen halben Fehler hat er gehabt. Haha, die neuen Pädagogen rechnen mit halben Fehlern, halben Prozenten. Die sind Knauser. Nur einen halben Fehler!“

      „Dann wird er von Heinrich Martin abgeschrieben haben. Der sitzt neben ihm!“

      „Nein, Heinrich Martin kann selber nichts. Eher hat Heinrich Martin von Julius abgeschrieben.“

      „Dann hat ihnen der Sohn vom Pedell, mit dem sie Briefmarken tauschen, einen Tip gegeben, was drankommt. Das tut er manchmal. Julius sagt, der Pedell hat immer scharfe Augen, aber im Lehrerzimmer, wo manchmal Notizbücher herumliegen oder im Überzieher stecken bleiben, hat er hundert Augen wie der Gott Argus und eine flinke Hand im Nachschlagen und Abnotieren. Das sagen Julius und Heinrich Martin.“

      Tobias freute sich, dass er das Mädchen etwas von seinen schweren Friedhofsgedanken hatte ablenken können. Er lachte und sagte:

      „Oh, der Pedell ist einmal bei uns in Ulrichshof in der Schlossbrauerei gewesen, wo er herstammt, und da hat er geprahlt, er hätte schon zwei Schock Abiturienten durch das Maturium bugsiert, und eigentlich sei es nicht der Direktor, sondern er, der das Zeugnis der Reife bewirke. Das hat der Trinkkumpan in der Stadt weitererzählt, und da wäre es dem jugendfreundlichen Pedell beinahe an den Kragen gegangen. Aber er log sich mit totaler Trunkenheit seines Kumpans heraus, und der Direktor liess Milde walten. Wahrscheinlich hat er früher als Schüler selbst Durchstechereien gemacht. Haha! Wahrscheinlich — höchstwahrscheinlich.“

      Das Mädchen war schon nicht mehr zur Hälfte bei dem lustigen Thema.

      „Tobias, du hast doch auch studiert, warum bist du denn nicht auch Gymnasialdirektor geworden? Warum bist du bloss so bei uns?“

      Tobias seufzte.

      „Das kommt halt so! Jeder kann nicht etwas Grosses werden. Und ist es so schlimm, dass ich nur so bei euch bin?“

      „Nein, nein, das ist gut!“

      Sie stiegen nun die Chaussee bergan. Tobias musste manchmal stehenbleiben und etwas verschnaufen. Auf der Anhöhe, die den Namen „Die schöne Aussicht“ vom Volke erhalten hatte und auf der Brigittes Vater eine Ruhebank aus Eichenholz hatte errichten lassen, blieben sie halten.

      „Setz dich“, sagte der asthmatische Tobias „setz dich neben mich, Brigitte. Das war ein böser, langer Anstieg!“

      Er wischte sich den Schweiss von dem gelben Gesicht.

      „Ich will stehen bleiben!“ sagte das Mädchen.

      „Weil sie sich nicht auf die Bank ihres Vaters setzen mag“, brömmelte Tobias in sein Schnupftuch. „Das ist alles der Julius, der Julius, vielleicht auch dieser Heinrich Martin. Sie haben das Mädchen in der Gewalt.“

      Es war wirklich eine schöne Aussicht von dieser Anhöhe, die über die Chaussee lief. Nördlich und südlich war stolzer Hochwald mit vorgelagerten freundlichen Wiesen; nach Osten und nach Westen hin war die Aussicht frei; zur Linken lag die Kreisstadt mit ihren vier Türmen und den vielen Häusern, die an zwanzigtausend Menschen Obdach gewährten. Man sah deutlich die Luisenhöhe, auf der sie einen Bismarckturm errichtet hatten. Eine Lindenallee führte hinauf. Im Sommer versteckten sich Liebespärchen hinter den dicken Bäumen, im Winter war dort die Rodelbahn. Da fuhr so mancher an die Bäume und brach ein Bein; einer hatte sich tot gefahren, weil er dem Mädel, das er liebte, zeigen wollte, wie forsch er sei.

      Und zur Rechten lag Ulrichshof. Das Dorf war ein wenig dürftig, wie alle Dörfer, in denen durch Jahrhunderte Rittergüter waren. Diese armen Bäuerlein und Handwerksleute waren immer beim Löwen zu Gaste, der das Beste für sich nahm. Aber jetzt in der neuen Zeit hatte sich das Dorf recht herausgemacht. Sie hatten eine Chaussee, hatten elektrische Beleuchtung, einen eigenen Landjäger und auf dem Kirchturm drei sauber abgestimmte Glocken, auch wurden in manchen Häusern Zeitungen gehalten; ein Bauer, er blieb freilich der einzige, hatte sich im Laufe von zwei Jahrzehnten drei Bücher gekauft, und zwei andere Bauern besassen Rasierapparate. Das ist einiges, was zum Lobe des Dorfes Ulrichshof anzuführen wäre.

      Hoch und herrlich aber ragte das Schloss des Rittersitzes empor. „Schloss“ musste man sagen, denn „Herrenhaus“ wäre zu wenig gewesen. Der Mittelflügel hatte zwanzig Fenster Front, die Seitenflügel, die sich stumpfwinklig anschlossen, deren je zehn; ein mächtiger Turm überkrönte das Ganze. Ein altes Feudalgeschlecht hatte dieses Schloss erbaut, erweitert, gepflegt, bewohnt. Von den Tagen der Kurfürsten an war hier vornehmes, höfisches Leben gewesen mit Schmaus und Trank, Jagd und Spiel, mit Liebesabenteuern, Duellen, Intrigen, geheimen Abmachungen, mit Abwechselungen zwischen Lärm und rohem Gelächter und andererseits zierlicher „Courtoisie“ und gelehrten „Disputen“. Das Feudalgeschlecht hatte seinen reichen Besitz im Laufe der Jahrzehnte vertan, und seine Mitglieder waren in die schmale Futterweide königlicher Beamten- und Offiziersstellen gekommen. Gut und Schloss waren dann durch verschiedene Hände gegangen, an Menschen geraten, die für die mächtigen Rahmen nicht die entsprechenden Porträts liefern konnten und schliesslich immer froh waren, wenn sie den Besitz, der sie in seinen Ausmassen bedrückte, weiterverkaufen konnten. Jeder dieser Zwischenbesitzer aber hatte vor dem Weiterverkauf Acker- und Waldparzellen zu Gelde gemacht, auch fleissig Bäume schlagen lassen, ohne sich mit der vorgeschriebenen Neuaufforstung übermässig zu übereilen oder durch übertriebene Sorgfalt zu übernehmen, und so war das Gut schliesslich auf fünfhundert Hektar an Acker- und Waldbestand zusammengeschrumpft, ein Areal, das zu dem feudalen Herrensitz nicht im Einklang stand. Zuletzt hatte es ein Generalleutnant gekauft, der den Titel „Exzellenz“ führen durfte. Dieser Mann hatte als schon bejahrter Generalmajor das Herz einer Prinzessin entzündet,