Paul Keller

Ulrichshof


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höfische Kreise geniessen sollte. Nun, es war anfangs besser gegangen, als man gedacht hatte. Die Prinzessin gebar der Exzellenz nach einem Jahr einen strammen Sohn, einen kleinen Prachtbengel, und in der Freude seines Herzens lud der glückliche Vater eine Unmenge früherer Kameraden und Bekannter zur Taufe. Noch einmal schien die alte Herrlichkeit zurückgekommen zu sein, noch einmal war das riesige Haus erfüllt von Lachen, Tanz, Trinkgelächter und Liebesgeflüster, noch einmal galt die alte Parole: „Verschwendung“, aber schon drei Jahre später kam ein Teil dieser lustigen Gäste still und bedrückt wieder zum Begräbnis der Exzellenz. Deren kleiner Sohn Eberhard trug bei der Beisetzung seines Vaters die ersten Höschen.

      *

      „Wollen wir jetzt weitergehen, Brigitte?“ fragte von seiner Bank her der alte Tobias. „In einer reichlichen halben Stunde wird es Nacht werden.“

      „Ja, wir wollen gehen!“ sagte das Mädchen. Sie hatte die ganze Zeit, während Tobias das Schloss betrachtete und über dessen Geschichte nachdachte, nach der anderen Seite geschaut, nach dem Friedhofe hin. Man entdeckte ihn sofort von weitem wegen der hohen Pappeln, die an seiner äusseren Mauerseite standen. Die Pappeln sind in ihrer Schlankheit und ihrer ernsten Art, aber auch in ihrer eigentümlich weichen, schwermütigen Stimmung die Zypressen des Nordens. Irgendeine Ratsverwaltung früherer Jahrzehnte hatte einmal die Anpflanzung der Pappeln am Friedhof angeordnet. Da hatte eine fein empfindende Seele gesagt: „Die Pappel ist der Baum des Schmerzes. Seht euch nur eine Pappel an, hört nur, wie klagend sie rauscht, und dann versucht zu lachen! Ihr könnt es nicht!“ Aber in späteren Jahren hatte ein anderer gesagt: „Man sollte die Pappeln am Friedhof ausroden. Auf die Stätte der Trauer soll man nicht weitere Schwermut bringen, sondern Licht und Trost. Birken pflanzt an, die wie weissgekleidete Mädchen sind, die seidene Haare haben wie die Himmelsjungfrauen und zärtliche Lieder singen wie die Bräute. Und auf alle Gräber legt Kränze aus roten Rosen oder aus brennenden Nelken oder aus freudigen Chrysanthemen.“

      So denken und empfinden die Menschen verschieden und ereifern und begeistern und widersprechen sich, und wenn sie tot sind, ist ihnen alles gleichgültig.

      Sie gingen nun die Strasse weiter, die sich sanft senkte. Im Herzen des Tobias ruhte die Frage: Warum ist der Schmerz dieses Mädchens so andauernd? Wenn ein Kind ein ganzes Jahr lang so tief und andauernd trauert, gibt das zu denken. Kinderschmerz um Tote zerschleisst viel rascher als das Trauerkleid, dann kommt die Sehnsucht nach einem farbigen Gewande; Kinderlust verwelkt mit dem Kranze auf dem Kopfe, dann kommt die Frage nach etwas Neuem; keine Stimmung hält bei Kindern lange an. Ja, die Brigitte war tief wie ein rätselhafter Waldsee, dessen Wasser niemand gemessen hat, und auch der Junge, der Julius, war tief, aber tief wie ein Abgrund, in den niemand schauen kann, ohne vom Schwindel erfasst zu werden. Das waren die Enkelkinder jener Prinzessin und jener alten Exzellenz.

      „Von da unten herauf kommt Julius mit Heinrich Martin!“

      Tobias rückte an seiner Brille; er sah niemand kommen. Zehn Minuten später trafen sie zusammen. Tobias fragte, ob Julius vielleicht noch nach der Stadt wolle zu seiner geheimen Schülerverbindung. „Nein, Toby, das kannst du dir wohl denken, dass ich heute nicht auf die Kneipe gehe, dass ich heute zum Grabe der Mutter will.“

      „Jetzt, Julius? Gleich wird es Nacht sein. Es ist kein Mondschein!“

      „Das ist die richtige Zeit, das richtige Wetter. Nacht muss es sein, wenn meine Sterne strahlen.“

      Er sagte das abgeänderte Wallenstein-Zitat stolz, aber ziemlich theatralisch.

      „Wenn du nun schon durchaus gehen willst, Julius, so will ich mit dir gehen. Wir sind gleich im Dorfe. Brigittchen springt den Schlossberg allein hinauf; sie hat flinke Beine.“

      „Hältst du uns für Knaben, Toby? Wir sind siebzehn Jahre. In zwei Jahren haben wir das Maturum. Was brauchen wir eine Begleitung? Kannst du uns beschützen, Toby?“

      „Nein“, sagte Tobias demütig; „du bist ja viel stärker als ich.“

      *

      Brigitte gehörten die drei Zimmer, die früher die Mutter bewohnt hatte: ein Rokokosalon, ein anstossendes Musikzimmer und ein Schlafzimmer. Die Räume waren zu weitläufig für ein dreizehnjähriges Mädchen, aber Brigitte hatte der Grossmutter innig gedankt, als sie diese Zimmer beziehen durfte. Vielleicht war es das einzige Mal, dass sie zu ihrer Grossmutter zärtlich war. Grossmutter aber hatte etwas brummig gesagt: „Schon gut, wer sollte diese Räume sonst benützen?“ Nun wohnte Brigitte in den Zimmern der Mutter. Alles war noch wie einst, da Mutter noch hier sass bei ihrer Handarbeit oder am Flügel oder am Harmonium oder in einem Buch las. An einem Fenster war ein zierlicher Rokokotisch weggerückt und dafür ein festerer Tisch mit einer grünen Decke hingestellt worden. An diesem Tische machten Brigitte und Julius ihre Schularbeiten; die Mutter sass schweigend dabei. Sie konnte viel. Selbst Julius, der doch schon in Untersekunda war, musste sie manchmal im Französischen um eine Auskunft bitten; auch Algebra verstand die Mutter. Nur Latein konnte sie nicht. Die lateinischen Arbeiten liess sich Julius von Tobias machen. Brigitte musste, wenn sie mit Zahlen zu tun hatte, diese Zahlen leise vor sich hinsprechen, sonst bekam sie die Rechnung nicht zustande. Einmal sagte Julius erbost zu ihr: „Still rechnen! Du dumme Gans störst mich!“ Diese Ungezogenheit verwies ihm die Mutter sanft, aber ernst. Da sprang Julius auf, umarmte seine Mutter so heftig, dass sie leise schrie, und bedeckte ihr ganzes Gesicht mit wilden Küssen. Dann ging er zurück zu seiner Arbeit und brummte leise, dass Mutter es nicht hören sollte, der Schwester zu: „Du bist doch eine dumme Gans.“ Aber Mutter hatte es wohl doch gehört. Sie schalt aber nicht mehr, sondern sprach ganz leise für sich hin: „Geschwister.“ Was die Mutter gemeint hatte, als sie gerade damals sagte: „Geschwister!“ wusste Brigitte noch heute nicht. —

      Nun wurde es Nacht draussen. Der Himmel war voller Wolken, der Mond schien nicht, nur einige Sterne blinkten manchmal auf und versanken gleich wieder im nächtlichen Wolkenmeere. Der Wind ging. Jetzt würden Julius und Heinrich Martin beim Grabe der Mutter sein. Der Friedhof würde ganz schwarz daliegen, in den hohen Pappeln würde es schaurig rauschen, und das alte Holztor würde jammern.

      Ob sich die beiden nicht fürchten würden so zu nächtlicher Zeit auf dem Kirchhof, wenn der Wind über die Gräber ging und die Pappeln so schaurig rauschten und die Grabkreuze und grauen Marmorsteine alle Geistermäntel umhatten? Nein, die fürchteten sich nicht, denn sie waren schon in Obersekunda.

      Und dann — warum sollten sie sich fürchten; sie waren ja bei der Mutter. Bei der Mutter konnte sich niemand fürchten, denn sie war wie ein Engel Gottes. Brigitte fürchtete sich auch nicht, in diesen grossen, alten Schlossräumen allein zu sein. Sogar vor der geputzten Ahnfrau mit den strengen Augen, deren grosses Bild im Musikzimmer hing, fürchtete sie sich nicht, obwohl diese Ahnfrau Hofdame bei der gewaltigen Kaiserin Theresia gewesen war. Sie fürchtete sich nicht, in dem Bette zu schlafen, in dem ihre Mutter gestorben war. Nein, nein, es war ihr ja das liebste Bett der Welt. Wie oft war sie aus ihrem Kinderbettchen herausgeklettert und hatte sich zur Mutter gelegt in dieses Bett. Jetzt träumte sie manchmal, die Mutter käme ganz leise herein und huschte zu ihr unter die Decke.

      Da hing wirklich das Gedicht, von dem Tobias auf dem Kirchhof gesprochen hatte, in zierlicher Rundschrift geschrieben und schön eingerahmt. Der gute Toby! Woher er nur das Gedicht hatte!

      „Es fiel einmal ein Kinderherz

      Ins Gras . . .“

      Woher er das nur hatte? Sie wird das Gedicht zwei- oder dreimal lesen, und dann wird sie es im Herzen und in der Seele haben als einen schönen Trost.

      *

      Es klopfte deutlich an die Tür. Tobias war’s. Er schaltete rasch einige Lampen ein.

      „Musst nicht so im Dämmern sitzen, Brigittchen! Seit wir auf dem Gute die eigene Wasserkraft ausnützen und die Turbinen haben, kommt es gar nicht darauf an, wieviel Lampen brennen.“

      „Es ist ganz schön im Dämmerlichte, ich fürchte mich nicht.“

      „Ja, ja, aber der Mensch ist ein Kind des Lichtes, Finsternis taugt nichts für ihn. ‚Die Nacht ist keines Menschen Freund‘, steht geschrieben. Hast du das Gedicht bei deinem Bette