Paul Keller

Ulrichshof


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Ton gegen deine Grossmutter anzuschlagen, von der du alles hast, ohne die du nicht leben könntest. Wenn ich heute nicht auf dem Friedhof war, so lag der Grund darin, dass mir meine Nerven so etwas nicht erlauben. Und um eines will ich dich fragen, Julius: das ganze Jahr jammert ihr um eure Mutter. Denkt ihr auch einmal an euren Vater, der mein einziges Kind ist? Denkst du an ihn, Brigitte?“

      „Wenn ich an ihn denke, bete ich für ihn“, sagte das Mädchen leise.

      „Und du, Julius, der du das Ebenbild deines Vaters bist, denkst du an ihn? Wie denkst du an ihn?“

      Der junge Mann sprang trotzig auf und verliess das Zimmer.

      „Das ist unerhört — unerhört — Doktor, holen Sie ihn zurück — er soll augenblicklich wieder hierherkommen!“

      Doktor Tobias beeilte sich.

      „Und du, Brigitte, gehe in dein Zimmer. Lasse dir das Nachtessen hinaufbringen.“

      „Ich esse heute nicht.“

      „Ach so — — die Verabredung — — — nun, vielleicht wäre es gut, euch einmal ordentlich hungern zu lassen. — Geh!“

      Tobias kam zurück und meldete, Herr Julius hätte Mantel und Hut genommen und sei noch einmal davongestürmt. Wohin, wisse niemand.

      Die alte Hoheit sprang auf.

      „Wahrscheinlich abermals nach dem Friedhof — wahrscheinlich, um sich noch einmal die Seele voll Gift und Galle zu saugen gegen seinen unglücklichen Vater und gegen mich, seine Grossmutter. Aber das sind die Früchte solcher Erziehung! Die Frau, deren Todestag heute ist, hat mir am Anfang ihrer Ehe die Liebe meines Sohnes genommen, die mein alles war auf Erden, sie hat dann ihre beiden Kinder mir und dem Vater der Kinder völlig entfremdet. Wundert sich jemand, dass ich keinen Kranz auf das Grab dieser Frau trage? Um die Mutter jammern sie, an den Vater, an meinen einzigen Sohn, denken sie nur im Groll, denken in Hass an den armen Gefangenen in der Festung. Und — Sie, Sie, Doktor, Sie stehen auch auf der Seite meiner Gegner!“

      „Nein, nein, nein“, stammelte der Alte, „ich bin Euer Hoheit durchaus ergeben.“

      „Durchaus ergeben? So, so! — War der kleine Kranz, von dem Julius sprach, von Ihnen?“

      „Ja“, sagte Tobias und zitterte.

      „Wissen Sie, was das ist, Doktor? Das ist nicht etwas Gutes, nicht etwas Christliches oder Pietätvolles, das ist glatter Verrat an Ihrer Herrin.“

      „Hoheit — Hoheit —“, jammerte der Alte, „wie könnte ich meine Wohltäterin verraten!“

      „Sie tun es! Der Junge, das Mädel kommen ans Grab. Von der Grossmutter ist kein Kranz da, aber wohl ist einer da von dem edlen Herrn Doktor Tobias. Der Festungsgefangene hat keinen Kranz schicken können oder wollen, aber Herr Doktor Tobias hat einen Kranz niedergelegt, wahrscheinlich in aller Herrgottsfrühe, da Julius und Brigitte noch in der Schule waren, am Vormittag niedergelegt, damit die Kinder ihn nachmittags finden sollten.“

      „Hoheit, ich hatte geglaubt, die Kinder würden meinen, der kleine armselige Kranz sei von der Krankenpflegerin, die die selige Frau Schwiegertochter betreut hat.“

      „Nein! Ich dulde keine Gegenpartei im Hause. Und eine Gegenpartei bilden Sie mit den Kindern. Was bedeutet der schwarze Vorhang, der zwischen Brigittes Schlafzimmer, dem ehemaligen Schlafzimmer ihrer Mutter, und dem ehemaligen Schlafzimmer ihres Vaters, meines Sohnes, hängt? Ich bin heute oben gewesen, habe alles das angesehen!“

      „Ich weiss es nicht, der Vorhang ist ohne mein Wissen angebracht worden.“

      „Sie sind nicht gerade ein scharfsichtiger Erzieher, wenn Sie so etwas nicht bemerken. An Brigittes Bett hängt ein Gedicht eingerahmt an der Wand. Wissen Sie auch nicht, wer dieses Gedicht dort aufgehängt hat?“

      „Ich tat es selbst.“

      „Von wem ist das Gedicht?“

      Tobias schwieg.

      Hoheit ging durchs Zimmer, suchte in einer Lesemappe, brachte ein Zeitschriftenheft, schlug eine Seite auf und fragte: „Ist es nicht dieses Gedicht? Der Name des Autors darunter ist ‚Tobias‘. Haben Sie dieses Gedicht selbst geschrieben? Sie machen ja doch wohl zuweilen Gedichte. Ist dieses Gedicht von Ihnen? Warum, wozu dichten Sie so etwas?“

      Der alte Tobias knickte ganz zusammen.

      „Hoheit, man dichtet nur, wenn man dichten muss. Als ich die Verse schrieb, habe ich an Brigitte nicht gedacht. Dichtung verfolgt ja keinen Zweck. Erst, als das Gedicht schon gedruckt war, fand ich, dass es für Brigitte passe. Da schrieb ich es ab und hing es an ihr Bett.“

      „Herr Doktor Tobias, Sie werden am ersten April Ihre Kündigung bekommen. Suchen Sie sich für den ersten Juli eine neue Stelle.“

      „Hoheit — Hoheit — ich alter Mann — mir gibt doch niemand mehr einen Posten. Wo — wo sollte ich denn hin?“

      „Das ist Ihre Sache! Eine Intrigenwirtschaft gegen mich dulde ich in meinem Hause nicht. Nun können Sie gehen.“

      Der alte Mann taumelte, als er der Tür zustrebte. Draussen brach er zusammen. Ein Bedienter führte ihn in seine bescheidene Stube und half ihm ins Bett.

      Eine halbe Stunde später stand Julius am Bette des Alten.

      „Man hat mir gesagt, du seiest erkrankt. Was ist dir, Toby?“

      „Ach“, jammerte Tobias, „ich alter Mann werde verhungern müssen. Hoheit hat mir gekündigt. Ich soll fort.“

      „Aber das ist ja nicht möglich!“

      „Es ist so, Julius.“

      Der Jüngling setzte sich auf einen Stuhl und starrte auf den Fussboden. Dann streichelte er die Hand des Greises und sagte:

      „Sei unbesorgt, Tobias, ehe du hungerst, werde ich Fabrikarbeiter, und Brigitte wird eher für ein Geschäft Hemden nähen, als dich darben lassen. Solch eine Gemeinheit! Nun, ich gehe jetzt zu ihr.“

      Tobias wollte ihn zurückhalten; er sagte, Hoheit sei in denkbar schlechtester Laune, und Julius könne in seiner Aufgeregtheit schwere Fehler machen.

      „Ich gehe!“

      Er wurde vorgelassen. Hoheit war besserer Laune. Eben war die siebente Patience „aufgegangen“, die sie auf die Frage gelegt hatte, ob wohl das Begnadigungsgesuch für ihren Sohn Erfolg haben werde. Wenn sieben verschiedene Patiencen, auch die schweren, auf die gestellte Frage aufgehen, dann ist das ein absolutes „Ja“. Die Begnadigung des Sohnes würde erfolgen, Eberhard, ihr vergötterter Eberhard, würde bald bei seiner Mutter sein. Nun stand Julius vor ihr, den sie nur deshalb liebte, weil er das Ebenbild seines Vaters war. So, wie jetzt Julius vor ihr stand, so haargenau war Eberhard gewesen, als er siebzehn Jahre alt war, auch so wild, auch so trotzig, genau so aussehend.

      „Nun, Julius, kommst du, um dich zu entschuldigen wegen deines unerhörten Betragens von vorhin?“

      „Nein!“

      „Was willst du also? Warum nimmst du nicht Platz?“

      „Ich möchte bitten, stehen bleiben zu dürfen, bis meine Frage erledigt ist. Ich komme wegen Tobias. War es Ernst mit der Kündigung?“

      „Ich spasse nicht mit solchen Dingen.“

      „Und soll das das letzte Wort in dieser Sache sein?“

      „Mein letztes Wort! Unwiderruflich! Dieser unselige Geist, der den Frieden dieses Hauses vergiftet, muss weichen. Doktor Tobias muss gehen, am besten sofort. Sein Gehalt bis ersten Juli werde ich ihm auszahlen lassen.“

      „Das ist sehr gnädig. Ich werde mit Tobias zusammen Ihr Haus verlassen, Hoheit, morgen für immer verlassen.“

      Die Prinzessin lachte nervös.

      „Bitte, Julius, sei nicht theatralisch und spiel dich nicht auf! Verfratz dich nicht! Na, na, du bist siebzehn Jahre. Da läuft man schnell davon,