neun stand ich am nächsten Morgen vor Ingmars Stall. Er war bereits da und hatte Amadeus hinausgeführt und an einen Pfosten auf dem Hof angebunden.
Ich striegelte den Hengst ausgiebig. Jeder Zentimeter seines Körpers sollte perfekt gepflegt sein. Mähne, Schweif und das ganze Fell sahen aus wie frisch gewaschenes Haar nach einer Glanzkur, so sorgfältig hatte ich Amadeus gekämmt und gebürstet. Während ich seine Hufe putzte, dachte ich an die anderen, diese Armen, die jetzt im VW-Bus saßen und in der Hitze nach Glimmingehus fuhren, einer mittelalterlichen Burg in Südschweden, aus der, wie es heißt, Nils Holgersson die Ratten lockte. Sie taten mir leid, und ich hätte nicht mit ihnen tauschen wollen. Außerdem hatte ich schon genug von alten Schlössern. Pferde waren mir einfach lieber.
Ich hatte die Nacht zuvor schlecht geschlafen, einmal, weil ich gespannt war auf Lilla Kulltorp, und auch, weil ich große Angst in der Dunkelheit hatte und mir Gespenster und Geister vorstellte. Im Morgengrauen waren wieder die unheimlichen, schlurfenden Schritte auf dem Kies vor meinem Fenster gewesen. Ich dachte, ich müßte sterben vor Schreck, aber nichts war passiert, die Schritte hatten sich entfernt, und ich schlief noch einmal ein. Es war ziemlich scheußlich, in einem Spukschloß allein zu schlafen, aber ich habe, verdammt noch mal, beschlossen, nicht aufzugeben. Und wenn mich Heulen und Zähneklappern überfallen, jetzt kann ich nicht mehr darum bitten, daß ich bei den anderen schlafen darf.
Ingmar longierte Amadeus eine Weile draußen im Paddock, und dann führte ich ihn. Ruhig ging das schöne Pferd an der Longe. Danach lud mich Ingmars Frau Stina zu Kakao und belegten Brötchen ein. Stina war eine nette kleine Frau mit einer runden Brille und einer gestreiften Schürze, ihr Küchenfenster stand voll mit Pelargonientöpfen. Sie erzählte, daß sie keine eigenen Kinder hatten, aber früher immer Ferienkinder eingeladen hatten. Sie waren so nett, Ingmar und Stina, und ich hätte sie beinahe gefragt, ob sie mich als Kind haben wollten. Wenigstens für eine Weile.
Natürlich schwieg ich, aber dann fragte ich doch, wie es mit Amadeus und dem Reiten wäre. Ingmar lachte, er begriff gleich, daß ich erpicht darauf war, zu reiten, aber er wollte nichts versprechen. Er sagte, Amadeus und ich müßten uns erst noch besser kennenlernen. Und von einem Galopp querfeldein könne ohnehin nicht die Rede sein, denn Amadeus sei mehrere Millionen Kronen wert, aber nicht ausreichend versichert.
„Warum nicht?“ fragte ich verwundert. „Warum ist er nicht ordentlich versichert?“
„Das ist sehr teuer“, erklärte Ingmar. „Die Prämien sind enorm hoch, und ich kann es mir kaum leisten, so ein wertvolles Pferd zu seinem vollen Wert zu versichern.“
Warum hat er dann so ein Pferd, dachte ich bei mir.
In den nächsten Tagen hielt ich mich fast nur auf Lilla Kulltorp auf. Cilla war sauer, sie fand, ich würde daheim zu wenig helfen. Aber Papa nahm mich in Schutz; er sagte, ich müsse auch allein etwas unternehmen und nicht immer nur mit ihnen Zusammensein. „Ein Schritt auf dem Weg zum Erwachsenwerden“, sagte er. Und damit konnte er recht haben.
Eines Tages geschah etwas ganz Besonderes. Nicht auf Lilla Kulltorp, sondern auf dem Weg dorthin. Ich hatte das dichte Kiefernwäldchen durchquert und war gerade über den Straßengraben auf die Landstraße gesprungen, als ein gelbes Kabriolett, das zuerst vorbeigefahren war, scharf abbremste. Ich tat, als hätte ich nichts gemerkt, und wollte an dem Auto, das auf der anderen Straßenseite stand, vorbeigehen, als mir der Fahrer etwas zurief.
„Hallo, wie wär’s mit einem Lift?“
„Danke, nein“, sagte ich, schielte aber vorsichtig zu dem Auto. „Ich wohne gleich um die Ecke. Trotzdem vielen Dank.“
Der Fahrer war ein junger Mann, er war allein im Auto. Er sah gut aus, aber ich guckte nur eine Sekunde, dann setzte ich meinen Weg fort, den Blick fest auf die Turmspitze von Schloß Sellerup gerichtet.
Der Typ legte den Rückwärtsgang ein und fuhr zu mir heran.
„Ich nehme dich ‚um die Ecke’ mit. Du brauchst keine Angst zu haben, ich beiße nicht!“ Er lachte mit blendend weißen Zähnen.
„Gut, meinetwegen“, sagte ich. Mir taten die Beine weh nach dem Herumlaufen mit Amadeus im Paddock, bei dem ich sicher einige Kilometer gelaufen bin.
Der Typ war unheimlich nett. Sonnengebräunt, mit blauen Augen und, wie gesagt, sehr weißen Zähnen und einer blonden Mähne, die um den Kopf flog, wenn er mit seinem offenen gelben Wagen fuhr.
„Ich heiße Christer.“ Er lachte mich an. „Wohin willst du?“
„Zum Schloß“, erklärte ich und fühlte mich wie eine Prinzessin, eine etwas verschmutzte und nach Pferden duftende Prinzessin.
Der Junge, der Christer hieß, warf mir einen raschen Blick zu. „Wohnst du in diesem Schloß?“
„Ja“, antwortete ich kurz und schaute geradeaus.
Christer verstummte. Mir war es offenbar gelungen, ihn zu beeindrucken.
„Halt hier an“, bat ich, als wir uns der Allee näherten, die von der Straße her echt super wirkte. Die verfallenen Gebäude konnte man nicht sehen, nur das Dach und den runden Turm mit der Spitze, der trotz des heruntergekommenen Zustandes stolz in die Luft ragte.
Ich stieg aus dem Auto mit dem vornehmsten Gesichtsausdruck, der mir möglich war, und dankte huldvoll für die Gefälligkeit.
„Verzeihung“, sagte Christer mit einem gewissen Respekt in der Stimme, „wie heißt das Schloß?“
„Sellerup“, erwiderte ich mit erhobener Nase. „Es ist seit vielen hundert Jahren im Besitz meiner Familie. Schon seit dem Mittelalter.“
„Vielleicht bin ich etwas aufdringlich mit meiner Frage“, sagte er. „Sind Sie sehr beschäftigt oder hätten Sie Lust, mit mir einmal eine Spazierfahrt zu unternehmen?“
„Tut mir leid, ich bin wirklich sehr beschäftigt“, antwortete ich, die Nase nach wie vor himmelwärts gerichtet.
„Aha, schade!“ Er sah enttäuscht aus, und ich bereute meine Absage sofort. Um ein Haar hätte ich gesagt: „Vielleicht Samstag“, aber da gab er bereits Gas und fuhr davon.
Ich ärgerte mich später ziemlich, daß ich so dumm war und ablehnte. Als ich am Abend ins Bett ging, hätte ich fast geheult. Christer war doch sehr nett, wie konnte ich so bescheuert sein, so unheimlich blöd, und nein sagen, wenn ich endlich eine Chance bekam. Dabei sehnte ich mich so sehr nach einem Jungen, mit dem ich zusammensein konnte. Wie viele Nächte hatte ich davon geträumt ...
Inzwischen schlief ich besser in meinem Schloßgemach. Ich war meistens müde nach der Arbeit auf Lilla Kulltorp und fiel gewöhnlich sofort in tiefen Schlaf. Manchmal wachte ich frühmorgens nur noch von den schlurfenden Schritten draußen auf dem Kies auf, schlief aber gleich wieder ein. War es ein Gespenst, dann sicher ein freundliches, das nur einen kleinen Spaziergang machte, bevor die Menschen erwachten.
Papa, Cilla, Kerstin und Oskar waren tagsüber beim Baden am Meer, oder sie unternahmen Ausflüge nach Malmö und Lund. Nur einen Nachmittag war ich dabei, wir fuhren nach Flyinge. Dort fand an diesem Tag ein nationales Springturnier statt, und ich konnte einige der bekannten Reiter sehen, von denen ich bisher nur in Pferdezeitschriften gelesen hatte.
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