Charles Dickens

Oliver Twist


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fehlte ihm erstlich ein Taschentuch — denn Taschentücher waren als Luxusartikel verpönt — und zweitens war er noch zu sehr Kind. Er weinte daher nur den langen Tag über, und schlief ein, als er erschöpft war. Es war indess dafür gesorgt, dass es ihm an Leibesbewegung, Gesellschaft und religiösem Troste nicht mangelte. Bumble geleitete ihn jeden Morgen zum Brunnen, und ausserdem veranlasste ihn die Kälte, viel auf und ab zu laufen im Gefängniss: Bumble führte ihn einen Tag um den andern in den Speisesaal, wo er alle anderen Knaben vorfand, vor deren Augen und zu deren Warnung und Beispiel er ausgepeitscht wurde; Bumble schleppte ihn jeden Abend zur Theilnahme am Gebet, das eine speciell auf ihn sich beziehende Clausel erhalten hatte: Gott möge sie (die Knaben) gut, zufrieden und folgsam machen, und — vor der Bosheit Oliver Twist’s bewahren.

      Während Oliver’s Angelegenheiten noch so standen, wurde eines Morgens der Schornsteinfeger, Mr. Gamfield, durch sein Geschäft vor dem Armenhause vorübergeführt. Er plagte sein Gehirn und daneben auch seinen Esel, weil sich ihm durchaus kein Mittel entdecken wollte, eine Schuld von einigen Pfunden zu berichtigen, um welcher willen er hart bedrängt wurde. Er las den erwähnten Anschlag, und schmunzelte. Der Betrag der angebotenen Summe war eben, was er bedurfte. Er kannte die Armenhausdiät, und war daher überzeugt, dass die an sich lästige Knabenmitgabe nicht zu sehr in Anschlag kommen könne. Das Kind war ohne Zweifel zart und schmächtig genug, um nützlich in engen Schornsteinen und Ofenröhren verwendet werden zu können.

      Er trat in das Haus, liess sich anmelden, erklärte den Directoren, dass er eines Lehrlings für ein respectabeles Schornsteinfegergeschäft bedürftig sei, und trug darauf an, dass man ihm den angebotenen Knaben überlassen möge. Mr. Limbkins missfiel das Geschäft, und ein anderer Herr bemerkte, man habe Beispiele, dass Knaben in den Rauchfängen erstickt wären.

      „Das kam nur davon,“ sagte Gamfield, „wenn das Stroh feucht war, das angezündet wurde, um sie herunterzubringen, und also nur Rauch und keine Flamme nicht gab. Knaben sein widerspenstig und faul, meine Herren; ein gutes Feuer im Kamin macht sie munter, verhindert, dass sie oben einschlafen, oder weckt sie auf, wenn sie eingeschlafen sind.“

      Dem Herrn mit der weissen Weste gefiel die Erklärung, Mr. Limbkins aber hatte desto mehr Einwendungen. Indess beriethen die Directoren leise, so dass nur die Worte „Ersparung“ und „Abrechnung“ vernommen wurden; sie erklärten dem Schornsteinfeger jedoch endlich, dass auf seinen Antrag nicht eingegangen werden könne.

      Mr. Gamfield wünschte keine weitläufigen Verhandlungen. Sie hätten zu Erkundigungen führen können, wobei dann leicht wieder davon geredet werden konnte, dass bereits drei oder vier Knaben, wie man ihm schuld gab, in seinem Geschäft zu Tode gekommen waren. Er schickte sich daher an, abzutreten.

      „Ich soll ihn also nicht haben, meine Herren?“ sagte er, an der Thür noch verweilend.

      Man erklärte ihm, das Schornsteinfegergeschäft wäre ein schlechtes Geschäft, und er könne zum wenigsten auf den vollen Betrag der gebotenen Prämie keinen Anspruch machen. Er begann zu feilschen, verzichtete auf zehn und noch zehn Schillinge, der Handel kam endlich zu Stande, und Bumble wurde beauftragt, Oliver Twist dem Friedensrichter zur obrigkeitlichen Bestätigung des Vertrags vorzuführen.

      Bumble kündigte Oliver seine Bestimmung an, und ermahnte ihn zur Dankbarkeit gegen das Kirchspiel, das so grosse Kosten aufwende, damit er, eine elende Waise, durch die Welt kommen könne. Oliver weinte blos. Bumble schalt ihn einen Narren, schärfte ihm ernstlich ein, was er auf die Fragen des Friedensrichters zu erwidern habe, und befahl, ihm zu folgen. Mr. Limbkins und der Schornsteinfeger warteten bereits. Bumble stellte Oliver gebührend vor, und Oliver verbeugte sich um so tiefer, da er noch nie Herren mit gepuderten Perrücken gesehen hatte.

      „Der Knabe wünscht also Schornsteinfeger zu werden?“ sagte der Friedensrichter.

      „Mit Gewalt,“ sagte Bumble, „will’s mit Gewalt werden, Ihr Edeln; würde übermorgen wieder entlaufen, wenn wir ihn morgen in ein anderes Geschäft gäben.“

      Der Friedensrichter wendete sich zu dem Schornsteinfeger.

      „Und Sie versprechen, ihn gut zu behandeln, ordentlich zu speisen, zu kleiden und was weiter dahin gehört?“

      „Wenn ich’s einmal gesagt habe, dass ich’s will, so ist’s auch meine Meinung, dass ich’s will,“ erwiderte Gamfield barsch.

      „Ihre Rede ist eben nicht fein, mein Freund; doch Sie scheinen ein ehrlicher, geradsinniger Mann zu sein,“ bemerkte der Friedensrichter, und war im Begriff, das betreffende Document zu unterzeichnen, als ihm Olivers angstvolles Zittern und entsetzte Mienen auffielen. Er legte die Feder wieder aus der Hand, sah Mr. Limbkins an, der aus Verlegenheit Schnupftabak nahm, lehnte sich über das Schreibpult, und redete Oliver so freundlich an, dass der Knabe zusammenfuhr, noch heftiger zu zittern anfing, und in Thränen ausbrach. Er sprach ihm Muth ein, und forderte ihn wiederholt auf, ohne Scheu zu sagen, wie es ihm um das Herz wäre.

      Oliver fiel auf die Knie nieder, hob die gefalteten Hände empor und flehete schluchzend, man möge ihn in das finstere Gemach zurückbringen, hungern lassen, schlagen, ja todtschlagen — nur aber mit dem schrecklichen Manne nicht fortschicken.

      Bumble bezeigte sein unsägliches, entrüstetes Erstaunen; der Friedensrichter gebot ihm Stillschweigen; er fragte, ob er gemeint sei; der Friedensrichter wiederholte das Gebot, und Bumble’s Erstaunen und Entrüstung kannten keine Grenzen mehr. Ihm zu gebieten, den Mund zu halten!

      „Ich muss dem Vertrage die Bestätigung versagen,“ erklärte der Friedensrichter, das Pergament unwillig zur Seite schiebend.

      „Ich hoffe,“ stotterte Mr. Limbkins, „Sie werden nicht geneigt sein, lediglich auf das Zeugniss eines Kindes der Meinung Raum zu geben, dass das Verfahren des Directoriums einem Tadel unterliege.“

      „Ich bin als Friedensrichter nicht berufen, eine Meinung darüber auszusprechen,“ entgegnete der alte Herr. „Nehmen Sie den Knaben wieder mit sich, und behandeln Sie ihn gut. Er scheint es zu bedürfen.“

      Man hatte den Anschlag herunter genommen, am folgenden Morgen wurde jedoch Oliver abermals um fünf Pfund ausgeboten.

      Viertes Kapitel.

      Oliver Twist fängt ein neues Leben unter Särgen an.

      Die Directoren hatten Bumble befohlen, Erkundigungen einzuziehen, ob nicht etwa ein Stromschiffer eines Knaben bedürfe, wie man denn die jüngeren Söhne, und eben so die Waisen gern zur See schickt, um sich ihrer zu entledigen. Gerade als der Kirchspieldiener zurückkehrte, trat Mr. Sowerberry aus dem Hause, der Leichenbestatter des Kirchspiels, der es trotz seinem Geschäft doch nicht wenig liebte, zu scherzen.

      „Ich habe so eben das Mass zu den beiden gestern Abend gestorbenen Frauenzimmern genommen, Mr. Bumble,“ rief er ihm entgegen, und bot ihm zugleich seine Dose, ein artiges kleines Modell eines Patentsarges.

      „Sie werden noch ein reicher Mann werden, Mr. Sowerberry,“ bemerkte Bumble.

      „Möcht’s wünschen; aber die Directoren zahlen nur gar zu geringe Preise.“

      „Ihre Särge sind auch gar zu klein, Mr. Sowerberry.“

      „Grössere thun auch nicht noth, Mr. Bumble, bei der neuen Speiseordnung.“

      Bumble missfiel die Wendung, welche das Gespräch genommen; er suchte es daher auf einen anderen Gegenstand zu lenken, spielte mit einem seiner grossen Rockknöpfe mit dem Kirchspielsiegelemblem — dem barmherzigen Samariter — und begann von Oliver Twist. Mr. Sowerberry bedurfte eines Knaben zu Handreichungen, wurde sofort zu den Directoren geführt, und das Geschäft war bald abgemacht. Oliver sollte noch am selbigen Abend „auf Probe“ zu ihm gehen, was so viel sagen will, als dass der Meister, dem ein Kirchspielknabe als Lehrling übergeben wird, denselben auf eine Anzahl Lehrjahre haben soll, um mit ihm zu thun, was ihm beliebt, wenn er nach kurzer Probezeit ersieht, dass ihm der Knabe genug arbeitet, ohne zu esslustig und also zu kostbar zu sein. Dem kleinen Oliver wurde gesagt, wenn er nicht gutwillig ginge, oder sich im Armenhause wieder blicken liesse, so würde man ihn nach gebührender Züchtigung zur See schicken, wo er unfehlbar ertrinken