Charles Dickens

Oliver Twist


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Augenblick herunterfallen müsste, und er würde auch heruntergefallen sein, wenn er nicht durch häufige rasche Kopfbewegungen seines Besitzers immer wieder zurecht gerückt oder befestigt worden wäre. Die Kleidung des kleinen war gleichfalls nichts weniger als knabenhaft, und die ganze Figur stellte das vollkommene Bild eines renommirenden, prahlhaften kleinen Helden von vier Fuss Höhe dar.

      „Was fehlt dir, Bursch? Was scheft dermehr? 2 redete er Oliver an.

      „Ich bin sehr hungrig und müde,“ erwiderte Oliver, mit Thränen in den Augen. „Ich komme weit her, und bin seit sieben Tagen auf der Wanderung gewesen.“

      „Weit her — hm! — seit sieben Tagen auf der Wanderung gewesen? — Ah — sehe schont — auf Oberschenkels Befehl — he? Doch,“ fügte er hinzu, als er Oliver’s verwunderte Miene gewahrte, „du scheinst nicht zu wissen, was ä Oberschenkel ist, mein guter Kochemer.“ 3

      Oliver erwiderte schüchtern, er wisse allerdings sehr wohl, dass man unter einem Oberschenkel den oberen Theil eines Beines verstehe.

      „Ha, ha, ha! Wie grün!“ rief der junge Gentleman aus. „Ae Oberschenkel ist ä Friedensrichter, wer auf ’nes Oberschenkels Befehl geht, kömmt nicht vorwärts, sondern geht immer ’nauf, ohne wieder ’nunter zu kommen. Noch nicht in der Mühle gewesen?“

      „In was für einer Mühle?“ fragte Oliver.

      „Ei, in der, die in ä Doves 4 Platz hat. Doch du bist butterich; 5 ich hab’ freilich auch nicht eben zu viel Massumme, 6 aber so weit’s zureicht, will ich ’rausrücken und blechen. Steh’ auf — komm!“

      Der junge Gentleman half Oliver aufstehen, und nahm ihn mit sich in sein Gasthaus, wo er Brod und Schinken bringen liess, und ihn sehr aufmerksam beim Essen beobachtete. Als sich Oliver endlich gesättigt, warf er die Frage hin: „Nach London?“

      „Ja.“

      „Wohnung?“

      „Nein.“

      „Geld?“

      „Nein.“

      Der junge Herr senkte die Hände in die Taschen und pfiff.

      Oliver fragte ihn, ob er in London wohne.

      „Ja, wenn ich zu Hause bin. Aber du weisst wol nicht, wo du kommende Nacht schlafen sollst?“

      „Nein,“ antwortete Oliver. „Ich habe seit sieben Nächten unter keinem Dache geschlafen.“

      „Mach’ dir darum nur keine Sorgen. Ich gehe nach London und kenne da ’nen respectablen alten Herrn, der dir Wohnung umsonst geben und dir bald ’ne gute Stelle verschaffen wird — das heisst, wenn dich ä Schentleman einführt, den er kennt. Und ob er mich wohl kennt!“ fügte der junge Herr lächelnd hinzu.

      Das unerwartete Anerbieten war zu lockend, als dass Oliver einen Augenblick hätte anstehen sollen, es anzunehmen. Er wurde zutraulicher, und erfuhr nun auch, dass sein neuer Freund Jack Dawkins heisse, und ein besonderer Liebling des erwähnten alten Herrn sei. — Jack’s Aeusseres schien freilich den Lieblingen des alten Herrn nicht viele Vortheile zu versprechen; allein da er ziemlich leichtfertig und grosssprecherisch redete, und auch gestand, dass er unter seinen Bekannten allgemein den Namen des „gepfefferten Baldoberers“ (d. h. ausgelernten Kundschafters) führe, so schloss Oliver, er möge nicht eben viel taugen und die guten Lehren seines Wohlthäters in den Wind schlagen. Oliver nahm sich daher in der Stille vor, sich so bald als möglich die Gunst des alten Herrn zu gewinnen, und wenn er den Baldoberer unverbesserlich fände, die Ehre der näheren Bekanntschaft desselben abzulehnen.

      Da es Jack nicht genehm war, vor Abend in London einzutreffen, so wurde es fast elf Uhr, bevor sie den Schlagbaum von Islington erreichten. Die Plätze, Strassen und Gassen, über und durch welche Oliver geführt wurde, waren zuerst schlecht, und dann abscheulich und immer abscheulicher, und was er von den Begegnenden und in den offenstehenden Läden und Gasthäusern sah und hörte, erfüllte ihn mit Bangigkeit und Schauder. Es wurde ihm immer unheimlicher, und er überlegte schon, ob er nicht am besten thäte, davonzulaufen, als ihn sein Führer plötzlich beim Arme nahm, die Thür eines Hauses unweit Fieldlane öffnete, ihn hineinzog und die Thür wieder verschloss. Der Baldoberer pfiff, und erwiderte auf den Ruf: „Wer da?“ — „Grim und petacht!“ 7 Unten auf der Hausflur zeigte sich Licht, und der Kopf eines Mannes tauchte auf der zur Küche hinunterführenden Treppe empor.

      „Es sind Eurer zwei — wer ist der Andre?“

      „Ein neuer Chawwer,“ rief Jack, Oliver nachziehend, zurück.

      „Woher kömmt er?“

      „Von Grünland. Ist Fagin oben?“

      „Ja. Er sortirt die Schneichen. 8 Geh’ hinauf!“

      Das Licht und der Kopf verschwanden.

      Jack führte Oliver eine finstere, sehr beschädigte Treppe hinauf, mit der er jedoch sehr genau bekannt zu sein schien, öffnete die Thür eines Hinterzimmers und zog Oliver nach.

      Die Wände des Gemachs waren von Schmutz und Rauch geschwärzt, auf einem elenden Tische stand ein in den Hals einer Bierflasche gestecktes Licht, und am Kamine die zusammengeschrumpfte Gestalt eines alten Juden mit einem zurückstossenden, spitzbübischen, satanischen Gesicht, das durch dichte, klebrige rothe Haare verdunkelt wurde. Er steckte in einem fettigen flanellenen Schlafrocke, trug den Hals bloss, und schien seine Aufmerksamkeit zwischen dem Feuer, an welchem er Brodschnitte röstete, und dem Kleiderstocke zu theilen, auf welchem eine grosse Anzahl seidener Taschentücher hing. An dem Tische sassen vier oder fünf Knaben, keiner älter als Jack, rauchten aus langen Thonpfeifen und tranken Branntwein, ganz als wenn sie Erwachsene gewesen wären. Sie drängten sich um den Baldoberer, als er dem Juden einige Worte zuflüsterte, dreheten sich darauf nach Oliver um, und sie und der Jude grinsten ihn an.

      „Fagin, das ist er, mein Freund Oliver Twist,“ sagte Jack Dawkins laut.

      Der Jude greinte, machte Oliver eine tiefe Verbeugung, fasste seine Hand, und sagte, er hoffe die Ehre seiner näheren Bekanntschaft zu haben. Hierauf umringten ihn die jungen rauchenden Gentlemen, und drückten ihm eifrig die Hände — besonders die linke, in welcher er seinen kleinen Bündel trug. Der Eine von ihnen bezeigte grossen Eifer, seine Kappe aufzuhängen, und ein Anderer war so dienstfertig, in seine Tasche zu greifen, um ihn der Mühe zu überheben, wenn er sich niederlegte, sie auszuleeren; und alle diese Höflichkeiten würden kein Ende gehabt haben, wenn der Jude die Köpfe der gefälligen jungen Herren nicht mit der Röstgabel, die er in der Hand hielt, zu bearbeiten angefangen hätte, worauf sich Alle zu Tisch setzten.

      Nachdem Oliver seinen Theil gegessen, mischte ihm der Jude ein Glas heissen Genevre mit Wasser, und sagte ihm, er müsse sogleich austrinken, weil noch Jemand des Glases bedürfe. Oliver that, was ihm geheissen war, sein Freund Jack hob ihn auf, legte ihn auf ein aus alten Säcken bereitetes Lager, und er versank sogleich in einen tiefen Schlummer.

      Neuntes Kapitel.

      Weitere Mittheilungen über den alten Herrn und seine hoffnungsvollen Zöglinge.

      Es war schon spät am folgenden Morgen, als Oliver aus einem langen, festen Schlummer erwachte, doch vorerst nur zu jenem Mittelzustande zwischen Schlaf und Wachen, in welchem man sich noch nicht vollkommen ermuntern kann, und doch Alles hört und sieht, was umher vorgeht.

      Der Jude war ausser Oliver allein im Zimmer. Er schlürfte seinen Kaffee, setzte das Geschirr nach einiger Zeit zur Seite, stand eine Weile am Kamin, wie wenn er nicht wüsste, was er zunächst vornehmen sollte, blickte darauf nach Oliver hin und rief ihn bei Namen. Oliver antwortete nicht und schien noch zu schlafen.

      Der Jude horchte, ging zur Thür, schob den Riegel vor, und nahm darauf, wie es Oliver schien, aus einer Vertiefung des Fussbodens eine kleine Schachtel heraus, und stellte sie auf den Tisch. Seine Augen glänzten, als er sie öffnete und in die Schachtel hineinschaute. Er setzte sich, und nahm eine goldene, von Diamanten funkelnde Uhr heraus.

      „Aha!“ murmelte er mit einem entsetzlichen Lächeln. „Verdammt