Charles Dickens

Oliver Twist


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den Augenblick vollkommen abgestumpft. Auf dem Wege zu Mr. Sowerberry ermahnte ihn Bumble in seinem gewöhnlichen Tone. Oliver traten die Thränen in die Augen.

      „Was weinst du, Schlingel? Hab’ ich’s nicht immer gesagt, dass du die schlechteste, undankbarste Creatur von der Welt bist? Was hast du? Sprich!“

      „Ich bin so verlassen, Sir — so ganz verlassen! Jedermann ist so schlimm gegen mich. Es ist mir, als wenn ich hier blutete und mich todtbluten müsste;“ — und er presste die Hand auf das Herz, und blickte mit nassen Augen seinem Führer in das Gesicht.

      Bumble hustete, sagte endlich: „Sei nur ein guter Junge,“ und ging schweigend weiter.

      Mr. Sowerberry rief seine wenig einnehmende Gattin. „Das ist der Knabe, von welchem ich dir sagte,“ nahm er schüchtern das Wort.

      „Mein Himmel, wie klein er ist!“ rief Mrs. Sowerberry aus.

      „Er ist allerdings klein,“ sagte Bumble, Oliver sehr unwillig anblickend, als ob es des Knaben Schuld gewesen wäre, dass er nicht grösser war; „er wird aber grösser werden, Mrs. Sowerberry.“

      „O ja, auf unsere Kosten,“ entgegnete sie verdriesslich. „Ich sehe keine Ersparniss mit Kirchspielkindern; sie kosten allezeit mehr, als sie werth sind. Die Männer glauben aber immer, Alles am besten zu wissen.“

      Sie stiess Oliver eine Treppe hinunter in eine finstere, elende Küche, und befahl einer schlumpigen Dienstmagd, ihm zu geben, was für den nicht zu Hause gekommenen Trip zurückgestellt wäre.

      O dass doch so Mancher, dessen Blut von Eis und dessen Herz von Stein ist, und der dennoch eine Stimme sich anmasst, eine Stimme hat, wo es der Beurtheilung der Lage, dem Wohl oder Wehe der Armen gilt, den Knaben hätte verschlingen sehen können, was der Haushund verschmäht! Wie sehr wäre so vielen Menschenfreunden dieselbe und keine andere Diät zu wünschen!

      Frau Sowerberry hatte dem Knaben mit stummem Entsetzen zugeschaut; er hörte auf zu essen, als er nichts mehr fand.

      „Bist du endlich fertig?“ sagte sie. „Nun komm, dein Bett ist unter dem Ladentische. Du wirst dich doch nicht grauen, zwischen Särgen zu schlafen? Aber wenn du auch nicht wolltest, du bekommst keine andere Schlafstelle.“

      Oliver folgte schüchtern und geduldig seiner neuen Herrin.

      Fünftes Kapitel.

      Oliver unter neuen Umgebungen und bei einem Leichenbegängnisse.

      Sobald Oliver im Laden des Leichenbestatters allein gelassen war, setzte er seine Lampe auf eine Bank, und Furcht und Grauen durchschauerte ihn. Mitten im Gemach stand ein neuer, fast fertiger Sarg; die schon zugeschnittenen, an die Wände umher gelehnten Bretter erschienen ihm beim matten Lampenlichte wie Geister. Auf dem Boden lagen grosse Nägel, Holzspähne, Stücke schwarzen Tuchs und Sargembleme, und an der Wand über dem Ladentische hing das grauenhafte Bild eines Leichenzugs. Die Luft war drückend heiss; sie däuchte Oliver wie Grabesluft, die Oeffnung zu seiner Ruhestätte unter dem Ladentische wie ein gähnendes Grab.

      Er fühlte sich allein und unbefreundet in der Welt, und obwol er keinen Schmerz über Trennung von Freunden oder Angehörigen empfand, so war ihm das Herz dennoch schwer; und als er in sein enges Bett hineinkroch, wünschte er, dass es sein Sarg sein und dass er darin hinaus auf den Kirchhof getragen werden möchte, wo das hohe stille Gras über ihm wüchse und im Winde säuselte, und das Läuten der alten traurigen Thurmglocke ihm schöne Träume zuführte in seinem süssen Schlummer.

      Er wurde am folgenden Morgen durch ein ungestümes Pochen an der Thür aus seinem unruhigen Schlafe geweckt, und eilte, dieselbe zu öffnen. Tobend und drohend trat ein weit grösserer Knabe, als Oliver selbst war — ein Armenknabe — herein, und befragte ihn barsch und ungestüm, ob er der neue Lehrling, wie alt er wäre, u. s. f. Oliver fragte ihn schüchtern und in aller Unschuld, ob er eines Sarges bedürfe.

      „Es wird nicht lange währen, bis du selbst einen brauchst,“ war die zornige Antwort, „wenn du Scherz treibst mit Leuten, die dir zu befehlen haben. Weisst du nicht, wer ich bin? Noah Claypole, und du bist mir untergeben, Musjö Ohnevater. Oeffne die Fensterläden, Faulpelz.“

      Oliver that, wie ihm geheissen war, und gleich darauf erschien Mr. und Mrs. Sowerberry. Oliver und sein neuer Tyrann wurden in die Küche geschickt, um ihr Frühstück zu erhalten. Charlotte, die Köchin, bedachte Noah gut und Oliver desto schlechter, der obenein von Jenem sehr unsanft in einen dunkeln Winkel gestossen und vielfach gehänselt wurde.

      Noah war ein Freischüler, aber doch keine Waise aus dem Armenhause. Sein Stammbaun war ihm sehr wohl bekannt; seine Eltern wohnten in der Nachbarschaft. Seine Mutter war eine Waschfrau, und sein Vater ein pensionirter, täglich betrunkener Soldat. Die Ladenburschen nannten ihn verächtlich „Lederhose“ und so fort, was er schweigend duldete, dagegen aber nunmehr mit desto grösseren Uebermuth einen Schwächeren und Elternlosen behandelte, den er als solchen tief unter sich sah. — Welch’ ein köstlicher Stoff zu Betrachtungen über die liebenswürdige menschliche Natur, deren vortreffliche Eigenschaften sich beim hochstehenden Lord wie beim Armenknaben offenbaren.

      Oliver hatte sich drei bis vier Wochen bei Mr. Sowerberry befunden, als derselbe einst gegen seine Hausehre die Rede auf ihn brachte. „Der Knabe sieht wirklich gut aus,“ bemerkte er.

      „Kein Wunder,“ entgegnete sie, „denn er isst genug.“

      „Er hat ein äusserst melancholisches Gesicht, und sieht immer so trübselig aus, dass er wirklich einen vortrefflichen Stummen 1 abgeben würde.“

      Seine Gattin sah ihn verwundert an, und er fuhr fort: „Ich meine nicht bei Erwachsenen, sondern bei Kinderbegräbnissen. ’S ist etwas Neues, auch zu dergleichen kleine Stumme zu stellen, und man kann sich etwas davon versprechen.“

      Mrs. Sowerberry gab dem Gedanken ihres Gatten, blos mit dem Bemerken, warum ihr einfältiger Eheherr denn nicht schon längst daran gedacht, Beifall, und Mr. Sowerberry beschloss, Oliver in die Mysterien des Leichenbestattergeschäfts einzuweihen, und sich daher von ihm zum ersten besten vorkommenden Begräbnisse begleiten zu lassen. Die Gelegenheit liess nicht lange auf sich warten, denn eine halbe Stunde darauf erschien Bumble mit dem Auftrage zu einem Kirchspielbegräbnisse.

      Mr. Sowerberry ordnete die erforderlichen Vorbereitungen, und befahl Oliver, mit ihm zu gehen. Sie begaben sich nach dem bezeichneten Hause, um das Mass zum Sarge zu nehmen, wo sich ihren Blicken eine Scene des grauenvollsten Elends darbot, die auf Oliver, obgleich er an Elend so wohl gewöhnt war, den peinlichsten Eindruck machte.

      Am folgenden kalten und regnichten Tage wiederholten sie ihren Besuch, die Leiche wurde in den Sarg gelegt, jede Anordnung war getroffen. Mr. Sowerberry sagte den Trägern, sie möchten sich sputen, und den Geistlichen nicht warten lassen; es wäre schon spät. Die Träger setzten sich in eine Art von Trab, und Oliver musste fast laufen, um mitkommen zu können. Der Geistliche war noch nicht angelangt, der Sarg wurde in einem entfernten Winkel des Kirchhofs neben der Gruft einstweilen niedergesetzt, und Mr. Sowerberry und Bumble setzten sich zum Küster in die Sacristei an das Feuer, und nahmen die Zeitungen zur Hand.

      Nach einer halben Stunde erschien der Geistliche, Bumble verjagte die Gassenbuben, die sich damit unterhielten, herund hinüber über den Sarg zu springen, der Geistliche las eilend die Gebete, entfernte sich wieder, der Sarg wurde eingesenk, die Grube zugeworfen, und Alle begaben sich auf den Heimweg.

      „Nun, Oliver, wie hat dir’s gefallen?“ fragte Mr. Sowerberry.

      „Recht gut, bedanke mich, Sir,“ antwortete Oliver zögernd; „aber doch eigentlich nicht sehr gut.“

      „Wirst dich schon daran gewöhnen,“ sagte der Leichenbesorger; „und ’s ist gar nichts, wenn du’s erst gewohnt bist.“

      Oliver hätte gern gewusst, wie lange es gedauert, ehe Mr. Sowerberry sich daran gewöhnt, wagte jedoch nicht zu fragen, und kehrte gedankenvoll mit seinem Herrn nach Hause zurück.

      Sechstes Kapitel.

      In welchem Oliver